Das Haus der toten Mädchen
neuen Nachbarn entwickeln würde, könnte ihr das zu neuem Elan verhelfen und sie von anderen Gefahren fern halten.
Immer vorausgesetzt, dass Mr. Smith einem knackigen jungen Ding ebenso ablehnend begegnen würde wie ihr.
Sophie machte sich nichts vor, was ihre Reize anging. Sie war nichts Außergewöhnliches: durchschnittlich groß, durchschnittlich schwer (mit einer gefährlichen Tendenz zur Fülligkeit), normales Haar. Sie hatte nie zu den Frauen gehört, nach denen sich die Männer reihenweise verzehrten, und so wie Mr. Smith auf sie reagiert hatte, würde sich das so bald auch nicht ändern. Was ihr nur recht sein konnte, denn im Augenblick hatte sie mit dem Gasthaus und ihrer verrückten kleinen Familie viel zu viel zu tun, um sich von einem unfreundlichen Fremden mit dem Antlitz eines Renaissanceengels ablenken zu lassen. Sie hatte ihre Pflicht erfüllt, ihm Muffins gebacken, und mit etwas Glück würde sie ihm nie wieder begegnen. Die Einsamkeit des Whitten-Hauses und die Geschichten über die Morde würden ihn schnell genug vertreiben.
Zurück im Gasthaus, konnte sie Marty nirgends finden, hörte aber das gedämpfte Stampfen jener Musikrichtung, die Marty neuerdings bevorzugte. Wenigstens übertrieb sie es nicht mit der Lautstärke, so dass die zarte Poesie von Limp Bizkit und Konsorten die friedliche Atmosphäre des Sees nicht weiter beeinträchtigte.
Grace saß in ihrem Zimmer im Korbstuhl und wiegte sich mit diesem allzu vertrauten, leeren Ausdruck im Gesicht vor und zurück, und Sophie wurde wieder einmal von Schuldgefühlen überwältigt. Seit sie in Vermont waren, ging es mit ihrer Mutter steil bergab: Sie las nicht einmal mehr ihre geliebten True-Crime-Bücher. Sie lagen stapelweise in der Ecke und türmten sich auf den Tischen, und nicht einmal die blutigsten, schaurigsten Neuerscheinungen vermochten Grace’ einstige Begeisterungsfähigkeit wiederzuerwecken. Sie saß einfach da, wiegte sich und lächelte sanft, wodurch sie um Jahrzehnte älter wirkte, als sie tatsächlich war.
„Du hast nicht viel gegessen“, rügte Sophie ihre Mutter und nahm neben ihr Platz.
Grace wandte sich ihr zu. „Ich hatte keinen Hunger, Liebes. Du solltest dir nicht so viele Sorgen um mich machen – mir geht es gut.“
„Hast du deine Medizin genommen? Ich habe dir Ginkgo-biloba-Kapseln mitgebracht; die sind gut fürs Gedächtnis.“
„Stimmt was nicht mit meinem Gedächtnis?“ fragte Grace.
Sophie biss sich frustriert auf die Lippe. „Du bist in letzter Zeit einfach vergesslicher geworden.“
„An manche Dinge erinnert man sich vielleicht besser nicht“, murmelte Grace. „Also, mach dir keine Gedanken um mich, Sophie. Wie ich höre, wohnt drüben im Whitten-Haus jetzt ein toller junger Typ. Um
den
solltest du dir Gedanken machen.“
Ihre Mutter schaffte es immer wieder, sie zu überraschen. „Woher hast du von ihm erfahren?“
„Oh, ich weiß so gut wie alles über diesen Ort, auch wenn es den Anschein hat, dass ich nichts mitbekomme“, erwiderte Grace. „Also, warum machst du dich nicht ein bisschen sexy zurecht und heißt ihn in der Nachbarschaft willkommen?“
„Schon passiert. Ich war gerade bei ihm. Ich muss leider einräumen, dass er nicht gerade erpicht darauf war, mich kennen zu lernen.“
Grace musterte sie kritisch. „Findest du das, was du da anhast, sexy?“
Sophie betrachtete ihren geblümten Rock. „Ich habe nicht gesagt, dass ich mich für ihn in Schale geworfen habe – das war deine Idee. Das wäre auch nicht mein Stil. Ich mag nun mal weite Sachen mit Blumenmustern.“
Grace schüttelte verzweifelt den Kopf. „Auf die Weise wirst du nie einen Ehemann finden.“
„Wie kommst du darauf, dass ich einen Ehemann will?“ entgegnete Sophie. „Du hattest einen, und die Ehe scheint dir nicht besonders zugesagt zu haben.“
„Du und ich, wir sind sehr verschieden, Sophie. Du brauchst einen gut aussehenden Kerl, der dich davon abbringt, ständig so furchtbar verantwortungsbewusst zu sein. Du musst dich so sehr verknallen, dass du deinen ganzen Anstand vergisst und endlich mal ein bisschen ausflippst. Und du brauchst Kinder, damit du aufhörst, um Marty und mich so einen Wirbel zu machen. Das ist nämlich gar nicht nötig.“
„Ich hab es nicht eilig.“ Sophie versuchte, nicht zu defensiv zu klingen.
„Herzchen“, gurrte Grace sanft und freundlich, „du musst endlich mal flachgelegt werden.“
Sophie bemühte sich, nicht schockiert aufzulachen. Nicht, dass Grace beim
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