Das Haus der toten Mädchen
nicht mehr damit verschwenden müssen, auf ihrer Veranda zu stehen, in die Dunkelheit hinauszustarren und über ihn und die Geheimnisse nachzugrübeln, die sich hinter diesen kühlen, dunklen Augen verbargen.
Denn jetzt musste sie sich darauf konzentrieren, das Gasthaus zum Laufen zu bringen. Für den schönen, rätselhaften Fremden, der praktisch in ihren Garten gezogen war, gab es in ihren Gedanken keinen Platz. In einem Monat oder so würde er verschwinden.
Doch sie würde noch da sein, sich um ihre Gäste kümmern, das Gasthaus in Schwung halten. Glücklich sein. Oder zumindest zufrieden. Mehr wagte sie meist gar nicht zu hoffen.
3. KAPITEL
G riffin schlief nicht gut. Das überraschte ihn nicht: Wieder in Colby zu sein war nervenaufreibend, und immer, wenn er zum See hinunterblickte, lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Der Effekt war so stark, dass er es nicht über sich brachte, nachts in das alte Gasthaus einzubrechen und sich dort umzuschauen, während alle schliefen. Das musste anders werden, und zwar bald, wenn er sein Ziel erreichen wollte.
Er öffnete die Flügelfenster im Schlafzimmer, das sich unter dem Dach befand. Sie waren natürlich nicht mit Fliegengittern versehen, aber mit etwas Glück würden sich die Mücken in Grenzen halten. Wenn es wirklich schlimm wurde, konnte er immer noch zu Audley’s gehen und sich Fliegengitter besorgen. Aber er hatte schon Schlimmeres als ein paar Mückenstiche überlebt – außerdem waren die meisten Insekten so klug, ihn in Ruhe zu lassen. Er wünschte, Menschen wären ebenso taktvoll, aber er wusste, dass er darauf nicht hoffen konnte.
In der verwahrlosten Küche fand sich keine Kaffeekanne. Er entdeckte eine Kaffeemaschine, aber die Hälfte ihrer Ausstattung fehlte. Er hätte sich einfach ein Glas Instantkaffee kaufen sollen, aber dieses Pulverzeug hatte er bisher immer verschmäht. Jetzt war er drauf und dran, seine Meinung zu ändern.
Er wusste natürlich, wo man Kaffee bekommen konnte. Und wahrscheinlich noch mehr Blaubeermuffins wie jene, die seine Besucherin gestern Abend vorbeigebracht hatte. Das wäre auch der ideale Aufhänger, um dort einen Fuß in die Tür zu kriegen. Eine gute Nachbarin würde doch sicher bereit sein, einem verzweifelten Mann eine Tasse Kaffee zu spendieren? Vielleicht konnte er sich bei der Gelegenheit für seine Unfreundlichkeit am Vorabend entschuldigen und sich bei ihr einzuschmeicheln versuchen. Es schadete bestimmt nichts, zuerst einmal den bequemeren Weg in dieses alte Gebäude anzutesten.
Das Einzige, was er aus der Nacht von Loreleis Tod noch wusste, war, dass er sich da oben beim Gasthaus aufgehalten hatte. Lorelei und er hatten sich immer in den verlassenen Flügel an der Rückseite geschlichen und es dort wie die Karnickel getrieben. In seiner verfallenen Hütte am See waren sie ein paarmal beinahe erwischt worden, und Peggy Niles hatte es für ihre Pflicht gehalten, über die Tugend der Mädchen zu wachen. Sie hatte dazu geneigt, in Glaubensdingen einen gewissen Fanatismus zu entwickeln, und Griffin hatte es vorgezogen, ihr einfach aus dem Weg zu gehen, anstatt ihr auseinander zu setzen, dass es sein gutes Recht war, alles zu vögeln, was lange genug stillhielt. Jetzt baute er darauf, dass er in dem alten Gebäudetrakt über etwas stolpern würde, irgendetwas, das seinem Gedächtnis auf die Sprünge half. Wenn das nicht funktionierte, würde er etwas anderes probieren, aber der Krankenhaustrakt empfahl sich als erste Anlaufstelle. Und um dort hineinzugelangen, musste er Miss Sophie Davids Wohlwollen erringen. Selbst wenn das so ziemlich das Letzte war, was er wollte.
Ihm missfiel die Aussicht, zum Gasthaus hinaufzugehen, ohne bereits coffeingestärkt zu sein, aber er hatte keine Wahl. Entweder das – oder eine Fahrt in den nächsten Ort, um dort im alten Diner zu frühstücken. Aber nach verbrauchtem Fett und abgestandenem Kaffee stand ihm der Sinn noch viel weniger. Noch zwei Wochen bis zur Eröffnung, hatte sie gesagt. Er war nicht hier, um Urlaub zu machen – also an die Arbeit!
Der Pfad zwischen den Häusern war schmaler als in seiner Erinnerung und streckenweise völlig zugewuchert. Er versuchte nicht an das letzte Mal zu denken, als er diesen Fußweg entlanggegangen war, und nicht an seine damalige Begleiterin. Es war mehr als zwanzig Jahre her: Warum konnte er sich nicht einfach aussuchen, woran er sich erinnerte und woran nicht? Er wäre wirklich froh, wenn nicht dauernd Lorelei vor seinem geistigen
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