Das Haus der toten Mädchen
Die Nachwirkungen ihres Beinahe-Absturzes setzten genau in dem Moment ein, als sie in die Straße nach Norden einbog, und plötzlich zitterte sie am ganzen Leib. Das war für vierundzwanzig Stunden einfach zu viel gewesen, und Hysterie ergriff von ihr Besitz. Schlimm genug, dass sie es mit einem Fremden getrieben hatte – die Erkenntnis, fast umgebracht worden zu sein, gab ihr jetzt den Rest.
Es regnete pausenlos weiter, und die Straße am Seeufer bestand inzwischen mehr aus Schlamm als aus Schotter. In ihrem dringenden Wunsch, endlich nach Hause zu kommen, fuhr sie zu schnell. Sie verschätzte sich in der Kurve, kam vom Weg ab und glitt seitwärts über die Böschung und in einen Graben hinab, aus dem sie auch der beste Allradantrieb nicht befreien konnte.
Sophie hielt sich selbst für unsentimental und hart im Nehmen, aber jetzt brach sie in Tränen aus, in lautes, hemmungslosen Schluchzen, und sie legte ihren blutigen Kopf auf das Lenkrad und ließ sich gehen.
So lang und laut hatte sie seit Jahren nicht geheult. An das letzte Mal konnte sie sich gar nicht erinnern. Weinen sollte eigentlich Stress abbauen, aber bei ihr schien es die gegenteilige Wirkung zu entfalten: Sie wurde immer verkrampfter. Zwischen den Schluchzern rang sie verzweifelt nach Luft. Sie steckte mitten in einer ausgewachsenen Panikattacke.
„Reiß dich zusammen, Sophie“, murmelte sie mit tränennassem Gesicht. „Das bringt dich auch nicht weiter.“ Sie versuchte, die Tränen mit ihrem Rock abzuwischen, aber der war schon mit Blut voll gesaugt, das sie nun in ihrem Gesicht verschmierte, und sie dachte lieber nicht daran, welchen Anblick sie mittlerweile bot.
Sie wusste, dass sie nicht die ganze Nacht hier sitzen bleiben und sich in Selbstmitleid ergehen konnte, so verlockend die Aussicht auch war. Leider war sie noch vor der Weggabelung in den Graben gerutscht, was hieß, dass sie sich näher am Whitten-Cottage als am Gasthaus befand. Zu nah. Sie musste nach Hause, wollte ihren Körper lange, lange Zeit in der löwenfüßigen Badewanne einweichen, vielleicht eine schöne Tasse Kräutertee genießen und dann ins Bett kriechen. Das reichte für heute – wirklich.
Sie krabbelte aus dem Wagen und trat in den Regen hinaus. Gott sei Dank hatte sie diesmal immerhin festen Boden unter den Füßen. Als sie die Böschung hinaufkletterte, rutschte sie aus und fiel bäuchlings in den Matsch, aber das war ihr mittlerweile egal. Wenn sie noch die Kraft dazu gehabt hätte, wäre sie nach Hause gerannt. Erschöpft, wie sie war, konnte sie jedoch gerade noch den schmalen Weg entlangtorkeln.
Als sie im Regen den Strahl einer Taschenlampe entdeckte, stieß sie ein leises, elendes Ächzen aus. Sie wollte niemanden treffen. Weder ihre Familie noch John Smith noch den Northeast-Kingdom-Killer. Sie wollte nur nach Hause. Sie blieb stehen und überlegte, ob sie sich wieder in den Graben retten sollte, um dem Blick des Menschen zu entgehen, der in dieser furchtbaren Nacht hier draußen unterwegs war. Es konnte kein wirklich gefährlicher Mensch sein, obwohl sie im Augenblick noch immer lieber einem legendären Mörder als jenem Mann in die Arme gelaufen wäre, mit dem sie die letzte Nacht verbracht hatte.
Der helle Strahl der Lampe erfasste sie: Für eine Flucht war es zu spät. Sie konnte nicht erkennen, wer die Taschenlampe hielt, sah nur einen großen Schatten in einem Regenmantel. Sie stand still und versuchte, die Assoziationen mit Teenager-Horrorfilmen zu vertreiben, die dieses Bild in ihr wachrief: Wenn sie davonliefe, würde er sie vermutlich mit einer Art Enterhaken einfangen.
Die unheimliche Gestalt aus der regennassen Finsternis kam immer näher, bis nur noch ein Meter zwischen ihnen lag. Mit sachlichem Interesse glitt der Lichtstrahl über ihren schmutzverschmierten Körper. „Hätte mir denken können, dass du das bist“, sagte John Smith mit resignierter Stimme. „Was, zum Teufel, ist passiert?“
Sie erwog einen viktorianischen Abgang, eine gnädige Ohnmacht, die ihr eine Antwort erspart hätte. Sogar davonzurennen erschien ihr angenehmer, als auf seine Frage einzugehen. Aber keins von beidem würde funktionieren. Wenn sie bewusstlos in den Schlamm sank, würde sie sich womöglich verletzen, und er würde sie entweder einfach liegen lassen oder sie wie einen nassen Sack über seine Schulter werfen und ihr so den letzten Rest Würde nehmen. Wenn sie davonlief, würde er sie in Windeseile einfangen – wenn sie nicht vorher schon auf die
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