Das Haus der toten Mädchen
Nase fiel.
Feindseligkeit konnte ihr vielleicht helfen, ihn auf Distanz zu halten. „Was glaubst du denn?“ herrschte sie ihn an. „Jemand hat versucht, mich von der Straße abzudrängen.“
„Offenbar mit Erfolg.“
„Nicht hier. Auf der Route 16. Bei den Dutchman’s Falls.“
Ihr fiel auf, dass er sich überhaupt nicht regte: gut so. „Wie hast du es geschafft, ihm zu entkommen?“
„Das war ein Witz. Ich hatte einfach einen Unfall. Irgendein Besoffener hat mich beinahe gerammt und ist einfach weitergefahren, ohne zu bemerken, dass er mich über die Böschung geschleudert hat. Zum Glück konnte ich mich mit dem Allradantrieb auf die Straße zurückmanövrieren, aber als ich hier in die Auffahrt einbiegen wollte, habe ich die Kontrolle über den Wagen verloren. Mir gehts gut, und ich denke, das Auto ist auch in Ordnung. Ich will einfach nach Hause, ein heißes Bad nehmen und ab ins Bett.“
Sie hätte sich in den Hintern beißen können, dass sie das Wort
Bett
in den Mund genommen hatte, aber er schien dem keine Beachtung zu schenken. Der Lichtstrahl glitt über die Straße und erfasste den Wagen, der schräg im Graben stand. Der vordere Kotflügel schien verbeult zu sein, und sie fragte sich, ob das gerade eben passiert war oder schon auf der Route 16.
Er richtete das Licht wieder auf ihr Gesicht, so dass sie die Augen zusammenkneifen musste. „Du blutest“, sagte er. Es war eher eine nüchterne Feststellung als ein Ausdruck von Besorgnis.
„Mit gehts gut.“
„Aber sicher“, erwiderte er und schaltete die Taschenlampe aus, so dass sie beide im Dunkeln standen. Das ist
die
Gelegenheit zur Flucht, dachte sie, konnte sich aber nicht rühren.
Er ergriff ihre Hand, ohne dass sie Widerstand leistete. „Zu dir oder zu mir?“
„Was?“
„Ich werde doch so einen blutigen Zombie nicht durch die Nacht irren lassen. Du bist derart mit Schlamm und Blut überzogen, dass man meinen könnte, du wärst gerade einem Axtmörder entkommen, und ich nehme an, du bist in diesem Zustand genauso wenig in der Lage, das Gasthaus zu finden, wie deine durchgeknallte Mutter. Also ist es wohl meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass du sauber und sicher nach Hause kommst. Zu dir oder zu mir?“
„Ich kann selbst auf mich aufpassen …“
„Schätze,
ich
muss die Entscheidung treffen“, befand er und zog sie hinter sich her. Sie war zu benommen, um sich zu wehren, obwohl sie eigentlich noch immer davonlaufen wollte. „Und bilde dir ja nicht ein, dass ich dich trage“, fügte er hinzu. „Der Boden ist aufgeweicht und glitschig, und du bist nicht gerade federleicht wie eine Fee. Also musst du es schon auf deinen eigenen zwei Füßen schaffen.“
Das reichte, um sie auf 180 zu bringen. „Arschloch“, murmelte sie und legte einen Zahn zu. „Ein Gentleman würde mir wenigstens seinen Mantel anbieten.“
„Ja? Du bist nass und blutverschmiert und hast dich im Dreck gewälzt. Das lässt sich nicht ungeschehen machen, aber wenn ich dir meinen Mantel gebe, werde ich auch noch nass. Außerdem frage ich mich, wie du plötzlich darauf kommst, dass ich ein Gentleman bin.“
Da musste sie ihm leider Recht geben. Abgesehen von der Hilfe, die er ihrer Mutter hatte angedeihen lassen, wusste dieses Schwein sich einfach nicht zu benehmen. Und das würde sie ihm gleich mitteilen – das und eine Reihe anderer Dinge, und sie stellte im Geiste schon möglichst drastische, blumige Beleidigungen von wirklich innovativer Kreativität zusammen, „miesärschiger Satyr“ zum Beispiel oder „verlogene Pestbeule“. Dann realisierte sie, dass sie irgendwie seine Schwelle erreicht hatten, obwohl sie doch gerade erst losgelaufen waren.
Er öffnete die Tür und stieß sie mit der üblichen Unhöflichkeit hinein, aber sie konnte einfach keinen Widerstand mehr leisten. Bei eingeschaltetem Licht wirkte der Raum ganz anders, und im Kamin brannte ein Feuer, und jetzt erst fiel ihr auf, wie furchtbar kalt ihr war.
Sie hatte zwei Möglichkeiten. Erstens: versuchen, ihn zu überrumpeln, ihn aus dem Weg zu stoßen und in den kalten Regen hinauszustürmen, bevor er sie zu packen bekam. Zweitens: sich vor den Kamin setzen und warten, bis die ersehnte Wärme in ihre Knochen eindrang.
Er war viel größer als sie, und obwohl der Regenmantel, den er gerade auszog, ihn ein wenig ablenkte, blockierte er noch immer ihren Fluchtweg, und er war nicht der Typ, der wegen eines nassen Regenmantels alles ringsum aus den Augen verlor. Und ihr war so
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