Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
hinunter, und seine Stimme hallt schmerzhaft in Hesters Kopf. »Bitte, Mrs. Canning, können Sie mir sagen, wo ich den Pfarrer finde? Wir müssen dringend mit ihm sprechen.« Der Polizist beugt sich leicht schräg über Hester, was ein Gefühl von Schwindel bei ihr auslöst. Sie weiß nicht, was sie sagen soll.
»Kirche. Versuchen Sie es in der Kirche«, stößt sie schließlich hervor.
»Ja, natürlich. Wie dumm von mir, dass ich nicht daran gedacht habe.« Damit ist der Mann verschwunden.
Hester weiß nicht, wie lange sie auf dem harten Holzstuhl im Hausflur sitzen bleibt, ein unberührtes Glas Wasser neben sich. Ihre Kehle ist trocken und tut weh, aber sie wagt nicht, die Faust zu öffnen, um nach dem Glas zu greifen. Sie weiß, was sie dann sehen wird, was an ihren Händen klebt. Erschrocken blickt sie plötzlich zu der Wand auf, wo sie sich vor Kurzem angelehnt hat, doch die ist sauber. Das Blut an ihren Händen ist offenbar getrocknet. Sie starrt auf die Oberfläche des Wassers im Glas, so klar und rein, im hellen Tageslicht schimmernd. Das Licht fällt durch die Haustür herein, die noch immer offen steht und ab und an in der leichten Brise knarrt. Doch es ist die Tür zur Bibliothek am anderen Ende des Flurs, die ihren Blick immer wieder auf sich zieht. Sie ist schreckenerregend, dunkel und abweisend. Hester würde nur zu gern aufstehen, in den Sonnenschein hinauslaufen und nie wieder zurückkehren. Er war über und über mit ihrem Blut besudelt … Die Worte hallen in ihren Gedanken wider. O Cat! Hester springt auf und eilt durch die Tür in die Bibliothek, ehe sie der Mut verlässt. Licht fällt durch einen Spalt zwischen den Vorhängen, die sie vorhin nicht wieder zugezogen hat, und in diesem Halbdunkel sucht sie den Boden ab. Sie findet Alberts Fernglas, hastig in das Futteral geschoben, das jedoch nicht geschlossen wurde. Sie besieht sich das Fernglas aus der Nähe und entdeckt, dass es mit einer dunklen, schimmernden Substanz überzogen ist. Ihre Hände zittern furchtbar, als sie es vorsichtig herausholt und sich damit dem Licht zuwendet. Die Linsen sind zerbrochen, und Splitter kleben in einer geronnenen Masse am Metall. Splitter und feine, schwarze Haare. Hester starrt sie an und erkennt sie mit schrecklicher Gewissheit. Etwas fällt aus einem der Okulare und landet mit einem leisen Geräusch auf dem Teppich. Benommen bückt Hester sich danach und hebt das Ding auf. Es fühlt sich hart zwischen ihren Fingern an, glatt und kantig zugleich, wie ein Knochensplitter, und ist ganz mit Blut bedeckt. Hester runzelt die Stirn und reibt es zwischen den Fingern, um es ein wenig zu säubern. Erneut betrachtet sie es und weiß plötzlich, was es ist: ein Zahn. Ein menschlicher Zahn, oder vielmehr die abgebrochene obere Hälfte. Hester schreit auf. Sie lässt das Fernglas fallen, und es landet mit einem Knall, der die Dielen beben lässt, auf dem Boden.
Sie erstarrt und wartet mit keuchendem Atem darauf, dass die Polizei sie hier findet, dass die Männer auf der Suche nach dem Grund für ihren Schrei und das Gepolter in die Bibliothek stürmen und sie mit Blut besudelt und halb von Sinnen hier antreffen werden. In ihrer Verzweiflung denkt sie erneut an Flucht – sie könnte durch das Fenster hinausklettern und davonlaufen, so weit ihre schwachen Beine sie tragen, ohne die geringste Ahnung, wohin sie sich wenden soll. Aber wenn sie sich jetzt bewegt, da ist sie sicher, wird sie in Ohnmacht fallen. Es dauert lange Minuten, bis die Panik allmählich nachlässt, doch nach einer Weile ist sie ziemlich sicher, dass niemand ihren Aufschrei gehört hat. Keine Schritte nähern sich der Bibliothek. Sie schließt die Augen, bis sich das enge Band um ihren zugeschnürten Brustkorb lockert und sie wieder in der Lage ist, einen klaren Gedanken zu fassen. Hester hockt sich neben Robins Tasche, klappt sie auf und zieht eine silbrig blonde Perücke und ein durchscheinendes, langes weißes Kleid heraus. Alles ist mit Blut beschmiert. Sie erkennt die beiden Gegenstände sofort, denn sie hat Robins Fotografien lange genug betrachtet. In diesem Augenblick begreift sie, dass Cat der Elementargeist war. O Gott, o Gott, o Gott … Hester weiß nicht, ob sie dieses verzweifelte Stoßgebet laut oder nur in Gedanken gesprochen hat. Denn wenn Robin verhaftet wurde, nachdem er mit Cats Leichnam direkt vom Schauplatz des Mordes kam, dann kann nur ein einziger Mensch diese Gegenstände zurück ins Haus gebracht haben. Nur einer kann sich
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