Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
wollen. Außerdem hat er in einigen von Cat Morleys tiefen Kopfwunden Glassplitter gefunden, für die es bisher keinerlei Erklärung gibt. Als Hester das hört, wird ihr eiskalt bis ins Mark. Sie denkt an das zertrümmerte Fernglas, und der Gedanke lässt sie nicht wieder los. Alberts Fernglas, das er immer bei sich hatte.
Am selben Abend holt Hester die Ledertasche aus der Bibliothek und geht damit den ganzen weiten Weg zur Bluecoat School zu Fuß. Ihr fällt kein besseres Versteck ein, kein Ort, an dem eine Durchsuchung unwahrscheinlicher wäre. Denn Professor Palmer hat scharfe Augen und trägt oft eine verwunderte, argwöhnische Miene zur Schau. Als er im Pfarrhaus erschien, um alle Bewohner zu befragen, ist ihr nicht entgangen, dass dieser scharfe Blick alle Ecken des Raumes erkundete wie ein eifriger Jagdhund. Als sie mit ihm sprach, klangen ihr die eigenen Worte falsch und verlogen, selbst dann, wenn sie die Wahrheit sagte. Denn sie war voller Lügen, voller Täuschung. Sie spürt förmlich, wie die Falschheit ihr aus allen Poren dringt. Diese Tasche kann nicht im Haus bleiben, und sie ist zu groß, um sie in den Ofen zu stecken und sie zu verbrennen, wie sie es mit dem Geschirrtuch gemacht hat. Außerdem würde das Fernglas gar nicht brennen. Hester findet keine Möglichkeit, es zu vernichten. Dazu kommt das Gefühl, dass sie eigentlich besser nichts von diesen Sachen vernichten sollte . Nur für den Fall … für den Fall, dass sich irgendetwas ergibt – irgendetwas, an das sie nicht gedacht hat, weil ihre Gedanken so wirr und durcheinander sind – und der Inhalt der Tasche doch gebraucht würde. Die Bluecoat School ist niemals abgeschlossen, und als sie ihre gewohnte Position vor den leeren Pulten einnimmt, wackeln die losen Bodendielen unter ihren Füßen. Sie fällt auf die Knie, krallt die Fingernägel in das Holz und zieht, und dann weint sie vor Erleichterung, als sich ihr dieses Versteck auftut.
Die gerichtliche Untersuchung dauert drei Tage, und die ganze Zeit über sagt Robin Durrant nichts. George erzählt dem Richter und den Geschworenen, dass Cat mit ihm davonlaufen wollte, wie sehr sie ihn geliebt hat – aus welchem Grund auch immer sie sich an jenem Morgen in den Auen aufgehalten haben mag, es sei ganz gewiss kein Stelldichein mit Robin Durrant gewesen, wie die Polizei vermutete. Er beharrt nachdrücklich darauf, ist sich dessen ganz sicher. Doch nur Hester weiß, dass er recht hat und nicht etwa blind vor Liebe ist. Sie starrt ihn an, während er da steht und ungehemmt weint, und es bricht ihr das Herz. Die Worte liegen ihr auf der Zunge, doch sie wird sie nicht aussprechen. Ich weiß, weshalb sie dort war! Ich weiß, was Robin Durrant getan hat! Aber sie kann nicht darüber reden. Mit niemandem. Als wäre ihr Mund von einem Zauber verschlossen, schweigt sie still. Er sieht gut aus, dieser Mann, den Cat liebte. Stark und aufrichtig. Er spricht mit solcher Leidenschaft und Liebe von Cat, dass Hester einen Stich der Eifersucht verspürt. Allein der Plan, mit einem Mann wie George Hobson durchzubrennen, muss Cat schon solche Freude bereitet haben. Doch ihre Pläne wurden jäh vereitelt. Grausam und unwiderruflich. Sie muss furchtbar wütend sein, denkt Hester. Sie schließt die Augen, überwältigt von diesem Gedanken. Wo auch immer Cat jetzt sein mag, sie muss rasen vor Wut.
Als Cats Charakter derart infrage gestellt wird, verlangt Mrs. Bell, dass man ihr das Wort erteilt, und verteidigt das Mädchen. Auch sie bestreitet, dass Cat irgendeine Beziehung gleich welcher Art mit Robin Durrant gehabt hätte. Sie deutet an, dass der Theosoph Cat irgendwie genötigt haben müsse, nachts ihr Zimmer zu verlassen, dass er irgendeine Möglichkeit gefunden haben müsse, ihre Tür aufzuschließen und sie zu zwingen, mit ihm in die Auen zu gehen, denn sie selbst habe das Mädchen am Abend zuvor sicher eingeschlossen. Als sie ihre Vermutung mit keinerlei rationalem Argument untermauern kann, werden Blicke gewechselt und Notizen gemacht, und man geht davon aus, dass die Haushälterin sich schuldig fühle, weil sie vergessen hat, Cats Tür abzuschließen, und nun versuche, ihren Fehler zu vertuschen. Hester hört all das mit an und schweigt. Sie denkt an den Generalschlüssel, den sie Cat gegeben hat, und schweigt. Sie vergisst für einen langen Moment zu blinzeln, bis ihre Augen brennen.
Barrett Anders, der Milchmann, sagt aus, dass er mit seinem Milchkarren auf dem Feldweg von der London Road in
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