Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Geschworenen, Milde walten zu lassen, und so wurde er nicht zum Tod durch Erhängen, sondern zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Nur ein Mann schien Zweifel an dem Urteil zu hegen. Der Gutachter des Innenministeriums, Professor Palmer, hob hervor, dass Cats Unterhose sehr viel weniger Blutflecken aufwies, als man erwarten würde, wenn sie nur dieses Kleidungsstück getragen hätte, als sie getötet wurde. Und wenn es sich um ein Stelldichein zweier Liebender gehandelt hätte, die in Streit ge rieten, so war es seiner Meinung nach doch sehr seltsam, dass sie sich mit ihrem anderen Liebhaber, George Hobson, für denselben Vormittag verabredet hatte, um mit ihm durchzubrennen. Zudem hatte sie ihr Kleid vorsichtig ausgezogen und säuberlich zusammengefaltet – das passte wohl kaum zum Bild eines Pärchens, das in wilder Leidenschaft entbrannt ist. Und dann waren da noch die Glassplitter im Gesicht der jungen Frau, für die es bis zuletzt keinerlei Erklärung gab.
Am Ende der Akte, wie ein nachträglicher Einfall, war noch eine zusätzliche Aussage von Mrs. Sophie Bell angefügt, die als Köchin und Haushälterin im Pfarrhaus beschäftigt war. Mrs. Bell hatte mehrere Wochen nach der gerichtli chen Untersuchung und kurz vor Robin Durrants Prozess zu Protokoll gegeben, dass sie am fraglichen Morgen ein blutbeschmiertes Geschirrtuch in der Küche des Pfarrhauses gefunden habe, das irgendwann im Laufe des Tages jedoch verschwunden sei. Auf die Frage, weshalb sie das nicht längst gemeldet habe, erklärte die Frau, sie sei damals zu schockiert und erschüttert gewesen und es sei ihr erst später wieder eingefallen. Außerdem sagte sie aus, dass der Pfarrer und seine Frau sich äußerst merkwürdig verhielten und seit dem Mord ganz verändert seien. Allerdings betonte sie, dass sie stets gute und freundliche Arbeitgeber gewesen seien und man diese Veränderung vielleicht auch dem Schock zuschreiben könne. Dabei lag eine Notiz von Professor Palmer, der dazu riet, diese Aussage bei der gerichtlichen Beweisaufnahme vorzubringen sowie weitere Ermittlungen im Pfarrhaus anzustellen, doch seiner Empfehlung wurde nicht entsprochen.
Während Leah die Akten las, verspürte sie ständig den Drang, etwas zu unternehmen. Sie wusste, woher die Glassplitter in Cats Gesicht stammten – von der Mordwaffe, nämlich Albert Cannings Fernglas. Sie wusste, weshalb sich nur wenig Blut an Cats Unterhose befunden hatte – sie war als Elementargeist verkleidet gewesen, als sie ermordet worden war. Und sie wusste, weshalb der Pfarrer, dessen Tagebuch einen raschen und vollständigen Realitätsverlust erkennen ließ, das Mädchen attackiert haben musste. Er war getäuscht worden, vorsätzlich belogen und betrogen. Diese Erkenntnis musste ihn bis ins tiefste Innerste erschüttert und endgültig um den Verstand gebracht haben. Sie wusste, warum Hester Canning anfangs so verzweifelt darauf bedacht gewesen war, ihren Mann gegen jeden Verdacht zu schützen, dass sie die Beweise, die sie an jenem Morgen im Pfarrhaus fand, versteckte – und weshalb sie später, als sie selbst ihren Mann verdächtigte, derart von Schuld und Angst gequält worden war. Leah wäre mit diesem Wissen am liebsten zu irgendeiner Behörde gerannt. Sie wollte es der Polizei erzählen, der Presse, irgendjemandem. Als ob sie hundert Jahre später noch irgendetwas an den Ereignissen hätte ändern können. Als hätte man den wahren Mörder seiner gerechten Strafe zuführen können, sodass Hester nicht gezwungen wäre, ihr Leben in Finsternis mit ihm zu verbringen.
Bis es zum Prozess kam, hatten die Zeitungen Fotografien zu der Geschichte aufgetrieben. Sie druckten das Hochzeitsfoto der Cannings ab, das 1909 entstanden war. Das Brautpaar blickte Leah aus dem Bild entgegen, zwei helle Augenpaare in weichen, jungen Gesichtern – selbst in Schwarz-Weiß waren ihre Augen so klar, dass sie hellblau oder hellgrün gewesen sein mussten. Hester lächelte sanft und strahlte tiefe Zufriedenheit aus. Der Pfarrer, der im Talar vor den Altar getreten war, wirkte eher ein wenig angespannt, er lächelte nicht. Leah starrte auf das Gesicht der Frau und hatte das Gefühl, sie zu kennen. Und da war ein Foto von Cat Morley, dem ermordeten Hausmädchen, über dessen Rolle als Elementargeist nie öffentlich diskutiert worden war, obgleich es damals schon Zweifler gegeben hatte. Das Bild war schlecht, bei der Krönungsfeier im Juni 1911 in Cold Ash Holt aus einiger Entfernung aufgenommen. Eine
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