Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
anderen Briefen von ihm erzählt.«
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Und vielleicht hat er die anderen wirklich verloren, unabsichtlich. Aber warum sollte sie ihr Kind überhaupt erwähnen, wenn sie einem verurteilten Mörder schreibt, was ihr offensichtlich nicht leichtfällt – und wenn es bestimmt viel wichtigere Dinge gäbe, die sie ihm schreiben könnte?«
»Ich weiß nicht … sind nicht alle jungen Mütter ein bisschen besessen von ihrem Nachwuchs?«, entgegnete er.
Leah zog ein Blatt Papier aus der hinteren Hosentasche. »Das hier habe ich aus dem Zeitungsarchiv ausgedruckt – Hester und Albert an ihrem Hochzeitstag.«
»Ach, so haben sie also ausgesehen. Toller Fund«, sagte Mark.
»Hast du das Foto von Thomas mitgebracht? Von Hes ters Sohn? Darf ich es mal sehen?«, bat Leah. Mark holte es aus der Manteltasche und reichte es ihr. Sie hielt die beiden Porträts nebeneinander hoch. Das dünne Druckerpapier flatterte leicht im Wind. »Fällt dir etwas auf?«
Konzentriert studierte Mark die beiden Bilder eine Zeit lang, dann zuckte er mit den Schultern.
»Ich weiß nicht. Was soll mir denn da auffallen?«
»Die Augen , Mark. Das weiß doch jeder Abiturient aus dem Biologieunterricht: Es ist praktisch unmöglich, dass zwei blauäugige Menschen ein Kind mit braunen Augen bekommen. Thomas war nicht Alberts Sohn. Er war Robin Durrants Kind.«
»Du meine Güte, bist du sicher?«
»Ganz sicher. Er und Hester müssen eine Affäre gehabt haben oder so. Die natürlich böse endete, als der Mord geschah. Die Kriegsgräberfürsorge kann einen Gentest für dich machen, wenn du möchtest. Dein Urgroßvater war Theosoph, er wurde für einen Mord verurteilt, den er nicht begangen hat, und dann wie so viele Sträflinge damals an die Front geschickt. Dort ist er gestorben, und alle seine Geheimnisse sind unentdeckt geblieben. Bis jetzt.«
Sie gingen noch ein Stück weiter und suchten die Grabsteine ab, bis Leah der Name ins Auge fiel, den sie gesucht hatte.
»Da! Da ist sie«, sagte sie. Doch ihre Aufregung wich rasch einem gedämpfteren Gefühl. Der Grabstein war sehr klein und so verwittert und mit Flechten überzogen, dass man ihn leicht übersehen konnte. Er stand ein wenig zur Seite geneigt, als sei er müde, und das Grab selbst war mit Gras überwuchert und lange vernachlässigt. Die eingravierten Worte, der Name und die Grabinschrift, waren gerade noch zu erkennen. Catherine Morley, April 1889 – August 1911. In Gottes Armen geborgen. »Den Zeitungen zufolge trug sie den Spitznamen Black Cat«, bemerkte Leah.
»Warum?«, fragte Mark und ging vor dem Grabstein in die Hocke. Er streckte die Hand aus und rieb mit dem Daumen krümelige Flechten von ihrem Namen.
»Wer weiß? Manche Dinge sind nach so langer Zeit einfach verloren. Vielleicht war es eine boshafte Anspielung auf ihren Charakter.« Leah seufzte. Sie legte den Blumenstrauß auf das Grab, wo er irgendwie deplatziert wirkte, zu bunt und fröhlich.
»Himmel, sie ist mit zweiundzwanzig gestorben. So jung. Du hast nicht noch irgendwelche gewichtigen Überraschungen für mich auf Lager, oder? Cat Morley war nicht zufällig eine verschollen geglaubte Verwandte oder so?« Mark lächelte.
Leah schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts dergleichen.«
»Tja, du hast es geschafft.« Er tätschelte Cat Morleys Grabstein. »Du hast herausgefunden, wer der tote Soldat war, und dabei auch noch einen Mord aufgeklärt. Und du hast es fertiggebracht, mich aus dem Haus zu locken. Danke, Leah«, sagte er ernst.
»Du brauchst mir nicht zu danken – ich danke dir für all deine Hilfe! Ohne dich hätte ich das nie geschafft«, entgegnete Leah verlegen.
»Doch, hättest du.«
»Na ja. Zum Glück hast du dich an dem Abend, als wir uns begegnet sind, auf ein Bier aus dem Haus getraut. Ich weiß nicht, ob ich nach deinem ersten Empfang den Mut aufgebracht hätte, noch einmal an deine Tür zu klopfen.«
»Und wenn, hätte ich wahrscheinlich nicht aufgemacht. Was ein schwerer Fehler gewesen wäre«, sagte er. Leah lächelte ihn an und schaute dann wieder auf das Grab zwischen ihnen hinab. Der feste Blick seiner grauen Augen machte sie nervös, brachte sie durcheinander. Eine bedrückende Pause entstand, während der Wind leise durch ihren fröhlichen Blumenstrauß raschelte.
»Also, wann ist dein Termin mit deinem … deiner Kontaktperson bei der Kriegsgräberfürsorge? Bei dem du feierlich den Namen des Toten enthüllen wirst?«, fragte Mark mit gespieltem
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