Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Ort der Stille in seinem Inneren. Lautlos intonierte er ein Mantra, das er gelernt hatte, als er gerade erst sechs Jahre alt war.
Om mani padme hum.
Er wiederholte es langsam viermal hintereinander, und für die wenigen Sekunden, die er sich gönnte, verstummte der Lärm des Internetcafés um ihn herum. Die Filmaufnahmen hatten ihn viel stärker aufgewühlt, als er es Cali oder, noch schlimmer, irgendjemandem sonst gegenüber zugeben durfte.
Mit einer Berührung am Arm holte ihn Cali in die Gegenwartzurück. »Wie schlimm soll es noch werden, bis die internationale Gemeinschaft endlich einschreitet?«
»Sie kann nicht einschreiten. Die finanziellen Konsequenzen wären unabsehbar. Sie schulden uns alle viel zu viel Geld. China hat sie alle in der Hand.« Xie bemühte sich, sachlich zu klingen, er fühlte sich jedoch alles andere als rational. Diese Groteske, die sich in seiner Heimat abspielte, verschlimmerte sich mit jedem Tag. Es wurde Zeit, sich zu engagieren. Er hatte keine Wahl. Jetzt nicht mehr. Schluss mit der Maskerade. Egal, wie hart der Weg war, der vor ihm lag, egal, wie gefährlich.
Draußen auf der Straße entdeckte er eine Gruppe blau gekleideter Polizisten, die auf das Café zusteuerten. Razzien auf der Suche nach subversiven Elementen gab es immer wieder, und er wollte lieber nicht hineingeraten. »Komm, gehen wir«, sagte er und stand auf.
»Allein in den letzten sechs Tagen haben sich hundertdrei Mönche angezündet.«
»Ich weiß, Cali. Komm jetzt.«
»Einhundertunddrei Mönche«, sagte sie noch einmal, als könne sie die Zahl nicht fassen.
Er fasste sie am Arm. »Wir müssen los.«
Als sie das Café verließen, überquerten die vier Polizisten gerade die Straße und gingen auf den Eingang zu. Sobald sie außer Hörweite waren, stellte Cali die Fragen, die auch Xie bewegten, ohne dass er sie aussprechen konnte. »Wie soll das alles diesem armen kleinen Jungen nützen? Wird man ihn je wiederfinden? Warum wird ausgerechnet jetzt die Verordnung Nummer fünf so durchgedrückt? Wussten die nicht, dass das nur noch mehr Ärger macht? Und wie konnten sie sie nur so offensichtlich missbrauchen? Wie gefährlich kann ein einzelner kleiner Junge schon sein?«
»Sehr gefährlich, wenn es ein kleiner Junge wie dieser ist.«
Die Verordnung Nummer fünf war 2007 in Kraft getretenund verlieh der Regierung das Recht, in die Reinkarnation der buddhistischen Meister einzugreifen, indem sie jede Wiedergeburt genehmigungspflichtig machte.
Reinkarnationen anzuerkennen war nicht das Entscheidende. Der Regierung kam es darauf an, sie ablehnen zu können, wenn sie Chinas Kontrolle über Tibet und den tibetischen Buddhismus gefährdeten. Der Verordnung zufolge mussten »Reinkarnationsgenehmigungen« von staatlichen Stellen erteilt werden, und zugleich gab es ganze Regionen, in denen Wiedergeburten grundsätzlich verboten waren. Natürlich gehörten auch die zwei spirituell bedeutsamsten Städte in Tibet, Xining und Lhasa, dazu.
Xie musste daran denken, wie sein Großvater von der Anerkennung des gegenwärtigen Dalai Lama, des geistigen und staatlichen Oberhaupts Tibets, im Jahr 1937 erzählt hatte. Der Junge war gerade zwei Jahre alt gewesen, als man ihn auf der Suche nach der Reinkarnation des Thubten Gyatsho fand, der von seinem dritten Lebensjahr 1879 bis zu seinem Tod 1933 der dreizehnte Dalai Lama gewesen war.
Ihren ersten Hinweis auf den Aufenthaltsort des Kindes bekamen die Mönche, als der Kopf des einbalsamierten Lama sich bewegte. Eines Tages lag er nicht mehr mit dem Gesicht nach Süden, sondern in Richtung Nordosten.
Dann erblickte ein älterer Lama Gebäude und Schriftzeichen auf der spiegelnden Oberfläche eines heiligen Sees. Diese Hinweise führten die Suchenden in ein Kloster in der Provinz Amdo, wo Mönche ihnen dabei halfen, den Jungen zu identifizieren.
Schließlich unterzogen sie ihn einer letzten Prüfung, um sicherzugehen, dass sie den wahren Dalai Lama vor sich hatten: Sie gaben dem Jungen eine Reihe von Gegenständen, von denen einige dem toten Lama gehörten und andere nicht.
»Das hier ist meins, das ist meins«, sagte er und wählte nurdie Dinge aus, die seinem toten Vorgänger gehörten, erst eine Gebetskette und dann seine Brille.
Dreizehn Jahre später, 1950, marschierten die kommunistischen Regierungstruppen Chinas in Tibet ein und übernahmen die Macht. Wiederum neun Jahre darauf verließ der erst vierundzwanzigjährige Dalai Lama seine Heimat und ging nach Indien ins Exil.
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