Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
als erblickte sie in einem Zauberspiegel eine andere Version ihres Ich. Ihre Androgynität brachte sie einander ungewöhnlich nah. Und ihre gemeinsame tragische Vergangenheit.
»Ich staune ja, dass du gekommen bist«, sagte Jac schließlich. »Hast du nicht immer gesagt, dass man Todestage erst gar nicht begehen sollte? Und dass Maman gar nicht wirklich tot ist?«
»Oh, Jac, natürlich ist sie das. Die Mutter, die wir hatten, ist gestorben. Aber ich glaube, nein, ich weiß, dass ihr Geist nicht gestorben ist und es auch nie und nimmer tun wird.«
»Was für eine charmante Vorstellung.« Jac gelang es nicht, ihren Sarkasmus zu verbergen. »So ein lebensbejahendes Glaubenssystem muss sehr tröstlich sein.«
Robbie sah ihr schweigend in die Augen. In seinem Blicklag etwas, das sie nicht verstand. Dann trat er auf sie zu, beugte sich herab und küsste sie sanft auf die Stirn. »Ich wollte dir Gesellschaft leisten. Es ist ein trauriger Tag, nicht?«
Jac schloss die Augen. Es tat gut, ihren Bruder bei sich zu wissen. Sie nahm seine Hand und drückte sie. Robbie konnte man nie lange böse sein.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.
Robbie sprach Französisch, und Jac antwortete automatisch in derselben Sprache. Die Geschwister waren mit ihrer amerikanischen Mutter und dem französischen Vater zweisprachig aufgewachsen, doch Jac zog die englische und Robbie die französische Sprache vor. Sie war und blieb mit allen Vor- und noch mehr Nachteilen ein Mutterkind und er der Sohn seines Vaters.
»Sicher.«
Dass sie die Stimme ihrer Mutter hörte, hatte sie ihm nie erzählt, auch wenn sie sonst fast alle Geheimnisse mit ihm teilte. Trotz all ihrer Unterschiede waren die beiden sich verzweifelt nah, wie es Kinder aus gescheiterten Familien öfter sind.
Robbie legte den Kopf schief, und Jac sah, dass er ihr nicht glaubte. Doch er würde nicht nachhaken, das war nicht seine Art. Robbie war der Geduldigere von ihnen beiden. Der Gelassenere. Der sich nie auf einen Streit einließ.
So war es zumindest bis vor kurzem gewesen.
Als Audrey starb, war Jac vierzehn und Robbie elf Jahre alt. Es folgte ein verlorenes Jahr, in dem Jacs Wahnvorstellungen sich verschlimmerten und sie von einem Arzt zum nächsten durchgereicht wurde. Einer hatte ihr wahnhafte Störungen, ein anderer Schizophrenie attestiert, bis man ihr in einer Klinik in der Schweiz tatsächlich helfen konnte und sie fast vollständig geheilt daraus entließ. Danach, mit fünfzehn, war sie nach Amerika übergesiedelt, um bei der Schwester ihrer Mutter und deren Ehemann zu wohnen, und Robbie war bei ihrem Vaterin Paris geblieben. Jedes Jahr waren Bruder und Schwester nach Grasse in Südfrankreich gereist und hatten dort gemeinsam zwölf Wochen bei ihrer Großmutter verbracht.
Vor sechs Monaten hatte man ihren Vater wegen seiner Alzheimer-Erkrankung für unmündig erklärt, und die Verantwortung für den Familienbetrieb war auf die Geschwister übergegangen. Sie hatten nicht einmal geahnt, wie nah die Firma dem Konkurs stand. Robbie hatte sich bisher nur mit der Entwicklung eigener Kollektionen von Nischenparfüms beschäftigt, exklusiven Düften, die in kleinen Auflagen vertrieben wurden, und Jac, die nicht einmal in Frankreich lebte, befasste sich gar nicht mit den Alltagsgeschäften. Beide waren von der finanziellen Lage des Unternehmens schockiert. Sie konnten sich nicht darüber einigen, wie es weitergehen sollte, und so endeten in letzter Zeit ihre transatlantischen Telefonate viel zu oft in erbittertem Streit. Die Krise des Hauses L’Étoile entfernte sie weiter voneinander als der zwischen ihnen liegende Ozean.
»Die sind schön.« Jac wies mit einem Nicken auf die Apfelblüten, die Robbie noch immer im Arm hielt.
Er sah zu der frisch gefüllten steinernen Vase hinüber. »Sieht allerdings nicht so aus, als wäre noch Platz dafür.«
»Die hier ist noch leer.« Jac deutete auf die zweite Vase.
Sie beobachtete, wie Robbie sich umsah. Soweit sie wusste, war er noch nie hier gewesen. Er betrachtete den lebensgroßen steinernen Engel, die Buntglasfenster und die Marmortafel mit den in säuberlichen Spalten eingravierten Namen und Daten. Er überflog sie und ließ seine Finger über die Rillen und Kanten des dritten Namens in der mittleren Spalte wandern – den Namen ihrer Mutter. Die Geste rührte Jac.
»Wenn sie glücklich war«, sagte er, »war sie der liebevollste Mensch der Welt. Und der schönste.« Dann wandte er sich lächelnd seiner Schwester zu. Die
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