Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Seither, seit mehr als fünfzig Jahren, war der Konflikt immer weiter eskaliert. Gerade wurde das Land von einer neuen Welle der Unruhe und Gewalt überschwemmt.
Auslöser der jüngsten tragischen Akte des Widerstands waren die Ereignisse in Lhasa zwei Wochen zuvor: Ein dreijähriges Kind war dort nur vierundzwanzig Stunden nach seiner Anerkennung als reinkarnierter Lama verschwunden.
Seitdem gab es in allen größeren tibetischen Städten Unruhen, und das brutale Vorgehen der Polizei hatte die Ereignisse zu der schwerwiegendsten Krise seit dem Olympiajahr 2008 hochgeschaukelt.
»Genau dasselbe ist doch schon mal passiert, oder?«, fragte Cali.
»Ja, fast jedenfalls.«
Mehr als zwanzig Jahre vorher war ein anderer, sechsjähriger Junge mitsamt seiner Familie verschwunden, kurz nachdem man ihn als den neuen Panchen Lama anerkannt hatte.
Seit Hunderten von Jahren spielte der Panchen Lama eine entscheidende Rolle bei der Identifikation des nächsten Dalai Lama. Die chinesische Regierung behauptete nach wie vor, der besagte Junge sei wohlauf und arbeite inzwischen als Ingenieur in Peking. Inoffiziell gingen die meisten Menschen davon aus, dass er getötet worden war. Nur wenige hegten noch die Hoffnung, er werde eines Tages wieder auftauchen.
Schweigend legten die beiden Freunde den Rest des Weges zur Kunsthochschule Nanjing zurück, wo sie ihren Abschluss machten und als Assistenten arbeiteten.
Am Eingang des Gebäudes hauchte Xie Cali einen Abschiedskuss auf die Wange. »Dann sehen wir uns morgen, ja?«
Sie nickte.
Er nahm behutsam ihren Arm und sprach ruhig und bestimmt. »Ich weiß, wie sehr dich das aufwühlt. Aber bitte erzähle niemandem, was du gesehen hast. Das ist gefährlich, und ich möchte, dass du vorsichtig bist.«
»Ich wünschte, du wärst ein bisschen mutiger.«
Da war so viel, was er ihr nicht sagen konnte. Von all den Opfern, die er bringen musste, schmerzte ihn keins so sehr wie der Umstand, dass er Cali nicht die Wahrheit sagen durfte.
»Bitte sei vorsichtig«, wiederholte er.
Vier
SLEEPY HOLLOW CEMETERY, NEW YORK
9:30 UHR
Jac konnte kaum glauben, dass der Mann auf der Schwelle ihr Bruder war. Es war ein weiter Weg von der Rue des Saints-Pères in Paris bis zu dieser Grabkapelle auf einem Friedhof fünfzig Kilometer außerhalb von New York City.
»Hast du mich erschreckt«, sagte sie, statt ihm zu erzählen, wie sehr sie sich freute.
»Tut mir leid«, sagte Robbie und kam herein. Trotz der ruppigen Begrüßung lächelte er.
Wasser perlte an einem riesigen Strauß blühender Apfelzweige herab, den er im Arm hielt, und rann von dem Regenschirm mit Wurzelholzgriff, den schon ihr Großvater gern bei sich getragen hatte. Trotz des Unwetters trug Robbie seine handgefertigten Lederschuhe. Jacs Bruder war immer makellos gekleidet, ohne sich je besonders um seine Anziehsachen zu kümmern. Sie beneidete ihn darum, wie sehr er in sich selbst ruhte. Ihr dagegen schien es viel zu oft, als sei sie in ihrem eigenen Leben fremd.
Robbie hatte dieselben mandelförmigen hellgrünen Augen wie Jac und ebenso wie sie ein ovales Gesicht und lockiges kastanienbraunes Haar, nur dass er seins in einem Pferdeschwanz trug. In seinem rechten Ohr glitzerte ein kleiner Smaragdstecker, und Regentropfen glänzten auf den Platinringen, die eran fast jedem Finger trug. Wenn Robbie einen Raum betrat, geschah immer etwas Magisches. Das Licht schien sich ihm zuzuwenden. In der Luft lag eine Ahnung unbekannter Düfte.
Früher hatten sie sich nie gestritten, doch seit ein paar Monaten hatte sich das geändert, und Jac erinnerte sich noch gut an ihre bisher ernsteste Auseinandersetzung vor drei Tagen am Telefon. Sie betrachtete ihren Bruder, dessen Präsenz jetzt den kleinen Raum erfüllte. Sein Lächeln ließ erkennen, dass er den Streit bereits vergessen hatte. Er freute sich einfach darüber, sie zu sehen.
Sie wartete darauf, dass er etwas sagte, doch genau wie ihr Vater zog Robbie es oft vor, in Gesten statt mit Worten zu kommunizieren. Manchmal ärgerte sie diese Eigenschaft, genauso wie Audrey damals. Jac sah zu der Bank hinüber. Die Erscheinung war nicht mehr da. Hatte Robbie Audrey vertrieben? Jac sah wieder ihren Bruder an und wartete.
Früher hatte es Jac verbittert, dass sie selbst nur hübsch war, ihr Bruder jedoch schön. Ihre Gesichtszüge waren ähnlich, doch an ihm wirkten sie fast zu zart für einen Mann, während Jac etwas zu kantig für eine Frau schien. Wenn sie Robbie ansah, war es,
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