Das Haus der verlorenen Herzen
konstruierten Muskel. Eines der großen Wunder: Wie hält dieser ›Motor‹, bei der mangelhaften Pflege, die der Mensch im allgemeinen seinem Herzen zubilligt, eine Leistung von 3 Milliarden Schlägen aus?! Der Mensch nimmt es hin, es muß einfach so sein, denkt er, und während er die Fahrradkette einfettet, den Motor ölt und reinigt, das Getriebe überwacht und sein geliebtes Fahrzeug zur Inspektion in die Werkstatt bringt und es noch einmal vom TÜV durchtesten läßt – um sein Herz kümmert er sich erst, wenn irgend etwas ›nicht stimmt‹. Und während sein Automotor das beste Benzin mit der höchsten Oktanzahl und das beste Öl erhält, jagt er durch sein Herz jeden Tag inhaliertes Nikotin und Verbrennungskondensate, die Reizstoffe des Alkohols und die lähmenden Substanzen von Tabletten, Pillen, Dragees und Kapseln. Im Laufe eines Lebens Kilogramme von Tabletten, Hektoliter von Alkohol – das Herz muß das alles schlucken, verarbeiten, durchpumpen, verkraften. Man verlangt das einfach von ihm! Und bricht es eines Tages doch zusammen, wundert man sich und erwartet von den Ärzten göttliche Fähigkeiten.
Die Röntgenbilder des Mailänder Bankiers Leone Tortalla waren eine echte, wenn auch noch weithin unbekannte Sensation. Professor Latungo hatte alle Kollegen, die er zur Besichtigung der Aufnahmen eingeladen hatte, als handele es sich um eine private Vorführung pornographischer Fotos, mit Handschlag verpflichtet, zunächst volles Stillschweigen darüber zu wahren. Und wer dann vor dem breiten Lichtband stand, an dem die Röntgenbilder hingen, verstand, warum Latungo so geheimnisvoll getan hatte.
Vier Tage nach Tortallas Unfall saßen neunundvierzig Ärzte aller Fachrichtungen in Latungos großem Ordinationszimmer und ließen sich erklären, was kaum glaubhaft war. Latungo, der den Vortrag hielt, konnte auch nichts anderes sagen, als was man aus den Bildern herauslesen konnte. Anwesend waren auch der Generalstaatsanwalt von Rom, zwei Oberstaatsanwälte, zwei Rechtsanwälte, die Tortalla herbeigerufen hatte, und ein Vertreter des Innenministeriums. Um die ganze Sache noch ein wenig theatralischer zu machen, hingen neben den Röntgenbildern Fotos, die man von dem Bankier gemacht hatte: Ein älterer Herr, im Bett sitzend, durch Kissen gestützt, rot im Gesicht und erkennbar schimpfend, mit Ärzten und Schwestern diskutierend, und – ein besonders dramatisches Foto: im zornigen Disput mit Professor Latungo, gegen den er beide Fäuste schüttelte: das Bild eines kraftvollen Mannes, der unglücklicherweise in ein Motorrad gerannt war, kurz nachdem er in fröhlicher Stimmung ein Weinlokal verlassen hatte.
Diese Fotos und die Röntgenbilder ließen eine geheimnisvolle Lebensgeschichte erraten.
»Wir können natürlich nicht wieder den Thorax von Signore Tortalla eröffnen, um nachzusehen, was da drinnen geschehen ist«, sagte Professor Latungo im Laufe seines Vortrages. »Aber auch wenn wir uns nur auf die Interpretierung der Röntgenaufnahmen beschränken, bleibt genug übrig. Sie sehen, meine Herren, daß ein vollkommener Herzaustausch vorgenommen worden ist. Eine ganz andere Methode als bei Barnard, Cooley oder DeBakey. Es ist auch kein Kunstherz, wie es schon 1958 der Kollege Willem Kolff in Cleveland versuchte, der einem Kalb ein Plastikherz einsetzte, zwei Kunststoffkapseln mit einer dünnen Gummimembrane, die die Pumptätigkeit übernahm und über einen kleinen Motor, der Preßluft zum Bewegen der Gummimembrane lieferte, den Arbeitsimpuls erhielt. Das Kalb lebte damals eineinhalb Stunden! Ein Fortschritt, gewiß – aber doch nur eine medizinisch-technische Spielerei. So sehe ich es, wie auch viele unserer Kollegen. Als Herzersatz, als neues Herz, das neues Leben liefert, sind alle diese Kunstherzen noch unbrauchbar für den Großeinsatz. Und es wird noch Jahre dauern, bis solche Prothesen so ausgereift sind, daß man von einem ›Ersatzteil‹ sprechen kann. Aber hier« – Professor Latungo zeigte mit einem Demonstrationsstock auf einige Röntgenbilder – »haben wir ein neues Herz, ein natürliches Herz, und dieses Herz hat man in Kunststoffprothesen aufgehängt, so wie man einen Waschmaschinenmotor der Schwingungen wegen in Gummi lagert! Ich gestehe: Das ist umwerfend! Das ist phänomenal! Und das ist geradezu verbrecherisch in meinen Augen! Schon des Risikos wegen. Hier hat man mit einem Herzen und einem hilflosen kranken Menschen, und das muß Signore Tortalla damals gewesen sein, ein vom
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