Das Haus der verlorenen Herzen
einer alten Decke. Ein Zahnarzt mit einem transportablen Bohrer arbeitete an dem Gebiß der Leiche. Mit einem Kiefernspreizer hatte er den Mund aufgesperrt. Rund um die Leiche lagen Bohrer und Haken, Plombenmaterial, Füllmasse: alles, was man zur Zahnbehandlung braucht. Oreto saß daneben auf einem alten Stuhl und las vor, was ihm Dr. Soriano telefonisch durchgegeben hatte.
»Nummer sieben links oben. Amalgam-Kadmium-Plombe …«
»Ein Glück, daß er keinen Goldzahn hatte«, sagte der alte Zahnarzt und begann, Nummer sieben links oben aufzubohren. Ein bis in die Knochen fahrendes Geräusch, das Oreto haßte. Er hatte vor nichts Angst, aber auf dem Stuhl eines Zahnarztes brach sein Kreislauf zusammen. Er starrte auf den alten Bohrer, ein Modell aus der Pionierzeit der Zahnbehandlung, das noch mit Fußtritten angetrieben wurde, aber es war das einzige, was sich hierhin transportieren ließ, und außerdem spürte dieser Patient nichts mehr. »Einen Goldzahn oder einen Ersatz, zum Beispiel eine Brücke, hätte ich nicht so schnell geschafft. Aber die paar Plomben kriegen wir hin. Hatte gute Zähne, der Mann.«
Der Bohrer knirschte im Zahn und höhlte ihn aus. Es roch brenzlig. Die Augendeckel des Toten schoben sich zurück, ein leerer Blick traf Oreto.
»Das weckt selbst Leichen auf!« sagte Oreto heiser, nahm ein Stück Sackleinen und warf es über die Augen des Toten.
Zum Abendessen im Familienkreis, wie es Dr. Soriano genannt hatte, erschien Dr. Volkmar nicht.
Auch Worthlows Beredsamkeit nützte nichts. Volkmar hatte sich zwar den weißen Smoking übergezogen, und der Butler hatte ihm die schwarze Schleife gebunden, aber dann hatte der Arzt sich trotzig in einen Sessel auf dem Dachgarten gesetzt und gesagt: »Nein! Nur, wenn man mich hinträgt! Worthlow, bitte holen Sie mir das Essen hierher! Ich streike ab sofort.«
»Damit erreichen Sie nichts, Sir«, sagte Worthlow, wie immer kühl-freundlich.
»Ich will provozieren! Was kann schon geschehen? Ich habe keine Angst mehr!«
»Ich werde Ihren Entschluß melden, Sir.« Worthlow ging ans Telefon und hob den Hörer ab. »Sie bleiben dabei?«
»Ja!« rief Volkmar vom Dachgarten.
Worthlow drückte auf einen Knopf am Apparat und veränderte um keine Nuance seine Stimme, als er sagte: »Dr. Volkmar hat mich soeben gebeten, für ihn allein auf dem Dachgarten zu servieren.«
»Das ist falsch, Worthlow!« Volkmar sprang auf, rannte ins Zimmer und riß dem Butler den Hörer aus der Hand. »Hören Sie, Don Eugenio?! Ich habe nicht gebeten! Ich weigere mich, mit Ihnen zu essen! Mir bleibt jeder Bissen im Halse stecken, wenn ich an Sie denke! Ich würde daran ersticken, wenn ich Sie auch noch ansehen müßte!«
»Das leuchtet mir ein!« Sorianos Stimme klang geradezu besorgt. »Ich bin kein Psychologe, davon verstehen Sie als Arzt mehr – aber jetzt kommt bei Ihnen die Reaktion auf die Erkenntnis. Pflegen Sie ruhig Ihren Trotz, Dottore. Wenn es Sie befreit: Schlagen Sie alles zusammen! – Geben Sie mir bitte Worthlow?«
Volkmar hielt den Hörer dem Butler hin. Er selbst ging auf den Dachgarten zurück, lehnte sich an die Randmauer und blickte über das nahe Meer. Das schwingende Laternenlicht von den kleinen Fischerbooten belebte die Dunkelheit.
Er fuhr erst herum, als Worthlow einen runden, appetitlich gedeckten Tisch auf die Terrasse unter die Markise rollte. Volkmar streckte den Arm aus.
»Was soll das?« rief er. »Zwei Gedecke! Ich will allein essen.«
»Sie werfen mich hinaus?« fragte eine samtene Stimme.
Volkmar hob die Schultern und drehte sich langsam um. In der Tür stand Loretta. Über das tief ausgeschnittene Kleid aus eng anliegendem, dunkelrosa Seidenjersey, das den oberen Teil ihrer Brüste freigab, breitete sich ihr langes, offenes Haar wie eine breite gesponnene Stola.
»Darf ich hereinkommen?« fragte sie, als Volkmar keine Antwort gab.
Er nickte, kam ihr entgegen und küßte ihr die Hand.
Hier bin ich sterblich, dachte er. Trotzdem, Don Eugenio: Ich operiere nicht!
»Mein Vater ist traurig –«, sagte sie. Es klang, als beschwere sich ein gekränktes Kind. Sie ließ sich an seiner Hand zu den tiefen Gartensesseln mit den dicken Polstern führen und setzte sich. Worthlow kurbelte an dem gedeckten Tisch – die Tischplatte ließ sich heben und senken. Loretta schlug die Beine übereinander, der lange Rock war bis zur Mitte der Oberschenkel seitlich geschlitzt.
»Sehr traurig«, wiederholte sie.
»Dazu hat er auch allen Grund!«
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