Das Haus der verlorenen Herzen
Bewußtsein. Er verlor es glücklich lächelnd, denn da nichts mehr zu verlieren war, erlaubte ihm Volkmar ein Glas Rotwein. Melata trank es mit einem heiligen Durst, streckte sich dann wohlig aus und verließ geistig diese Welt. Puls, Blutdruck, Herzfrequenz zeigten unmißverständlich an, daß Melata nach innen verblutete. Zunächst noch zögernd, aus kleinen undichten Stellen der Nähte, aber mit dem Blutdruck würden sich die Lecks weiter aufsprengen und der Blutfluß sich in die Brusthöhle ergießen. Auch die Abstoßreaktionen machten sich bemerkbar. Das Fieber stieg auf 41,3. Ein Körper, der etwas Fremdes in sich spürt, reagiert schnell und massiv. Es ist wie eine Generalmobilmachung: Alle Armeen der Abwehrstoffe marschieren los gegen den eingedrungenen Feind.
Melata spürte nichts mehr. Hier ist die Natur seltsam gnädig, so grausam sie sonst sein kann. Dr. Nardo hatte alle Infusionen abstellen lassen, nur noch die Meßgeräte waren angeschlossen. Ein Körper, der Daten von sich gab, Funktionsäußerungen, weiter nichts. Das war von Melata, 54 Jahre, Mechaniker, Vater von drei Kindern, übriggeblieben.
Nach siebzehn Stunden, als die elektronischen Bilder anzeigten, daß Melatas Herz ohne Blutversorgung war und auch das EEG schwieg, ließ Volkmar alles abstellen. Volkmar verließ das Zimmer und wartete in der ersten Schleuse, bis Dr. Soriano nachkam.
»Dr. Nardo wird ihn obduzieren. Wollen Sie dabeisein?« fragte er.
»Wozu? Der Befund ist klar.«
»Dann schlage ich ein exzellentes Nachtessen vor, Dottore.«
»Jetzt? Essen?!« Volkmar lehnte sich gegen die weißgekachelte Wand. »Ich würde Ihnen jeden Bissen ins Gesicht spucken, Don Eugenio!«
»Ich wette: Sie tun es nicht!« Dr. Soriano lächelte breit. »Worthlow hat auf Ihrem Dachgarten alles für ein Festmahl gedeckt. Loretta selbst überwacht die Küche …«
»Loretta?!« Dr. Volkmar starrte Soriano aus trüben, roten Augen an. Er fühlte sich so elend, daß seine Knie zitterten, nur die Kachelwand hielt ihn noch aufrecht.
»Sie ist vor zwei Stunden in Palermo gelandet. Als Sie die Operation beendet hatten, habe ich ihr telegrafiert: ›Engelchen, komm zurück. Enrico schmeckt kein Essen mehr ohne dich!‹ – Und sie nahm die nächste Maschine nach Palermo!« Soriano öffnete die Tür. »Sie werfen mir keine Fasanenbrust an den Kopf – wetten?«
»Ich halte die Wette!« Volkmar stieß sich von der Wand ab. Er schrie: »Aber anders, Don Eugenio! Ich werde Loretta in mein Bett nehmen! Nun? Was sagt der Herr Vater dazu? So bringen Sie mich doch um! Ihre Krokodile und Löwen haben Hunger! Warum sagen Sie nichts? Warum tun Sie nichts? Warum stehen Sie nur herum?! Ich schreie Ihnen ins Gesicht: Ich nehme Loretta in mein Bett!!«
»Sie sind überarbeitet, Dottore«, sagte Soriano ruhig. Seine Stimme verriet Güte, klang väterlich. »Überreizt. Mit den Nerven total fertig. Wen wundert das?! Wer das hier miterlebt hat … Sie haben das Recht, hysterisch zu sein.«
»In meinem Bett wird sie liegen! Heute noch!« schrie Volkmar. »Sie haben mich zerbrochen. Das wird Sie zerbrechen!«
»Irrtum!« Dr. Soriano nötigte ihn durch die offene Tür. »Auch wenn ich andere Pläne mit Loretta hatte – man kann umdisponieren. Ich gewinne einen Schwiegersohn, der ein Genie ist! Der meine Herzklinik aufbauen wird! Für den eine Herzverpflanzung nicht komplizierter als ein Blinddarmschnitt sein wird. Was kann sich ein Vater Besseres wünschen? Enrico, fahren wir endlich! Loretta erwartet Sie mit bebendem Herzen. Verdammt, ich gestehe es Ihnen als Vater: Sie liebt Sie wirklich!«
Er ging voraus, und Volkmar folgte ihm, schwankend wie ein Betrunkener.
Anna erlebte die Überfahrt nach Palermo unter Deck. Sie schrubbte Gänge und Kabinen, Küchen und Säle, Magazine und Treppen, wehrte Matrosen, Stewards, Maschinenpersonal, Köche, sogar Offiziere und Passagiere ab, die entdeckten, daß sich unter den schlichten Röcken und Blusen ein strammer Körper verbarg. Das wurde besonders sichtbar, wenn sie sich beim Putzen bückte. Ein Passagier der I. Klasse versuchte es mit zwanzigtausend Lire; ein älterer Passagier der II. Deckklasse lauerte ihr an einem Treppengang mit offener Hose auf.
Es war ein lächerliches Bemühen. Wenn auch die Seeluft, so sagt man, durch ihren Gehalt an Salz und Jod stimulierend wirkt und Menschen am Rande der Impotenz noch einmal Saft in den Lenden spüren – für Anna gab es nur den Gedanken an Enrico, gab es nur die Sehnsucht nach
Weitere Kostenlose Bücher