Das Haus der verlorenen Kinder
Winter ist lang und dunkel, selbst hier im Süden. Niemand ist unterwegs, dem man zufällig auf der Straße über den Weg laufen könnte, selbst wenn Sie ins Dorf hinuntergehen; im Winter erledigt man hier alles mit dem Auto. Und wir haben in der Nebensaison nur wenige Gäste …«
»Ich verstehe, was Sie damit sagen wollen«, fällt sie ihm ins Wort. »Aber im Dorf gibt es doch eine Schule, oder? Wie ist sie?«
»Soweit ich weiß, nicht schlecht.« Er sitzt natürlich im Beirat der Schule, aber er weiß, dass eins seiner eigenen Kinder diese Schule wohl kaum jemals zu einem anderen Zweck als dem Besuch des Weihnachtsbasars betreten würde.
»Sie kann wohl kaum schlechter sein als die, in die meine Tochter zurzeit geht.«
»Bestimmt. Jetzt lassen Sie mich Ihnen den Rest zeigen.«
Sie folgt ihm durch den Salon mit seinem Kamin in der Größe eines Bungalows. »Hier drin befinden sich Fernseher, Video und DVD. Sie werden erstaunt sein. Alle Gäste gehen davon aus, dass sie für eine gemeinsame Urlaubswoche aufs Land kommen, aber ohne EastEnders halten sie es nicht aus. Und wahrscheinlich auch nicht ohne Pornos, so viel ich weiß. Die Kamine sind natürlich alle in Ordnung. Sie müssen sie nur jeden Tag sauber machen, wenn Besucher da sind. Jedes Zimmer muss einmal in der Woche gesaugt, abgestaubt und geputzt werden. Die Bäder werden ganz gründlich gereinigt beim Gästewechsel, wenn sie da sind, genügt täglich ein kurzes Durchwischen. Die Küche scheint jedes Mal, wenn sie benutzt wird, eine Totalüberholung zu brauchen. Sie werden sich wundern, wie viel Zeit das in Anspruch nimmt.«
Nein, werde ich nicht, denkt sie. Sie ist riesig. Ihre und Yasmins Wohnung würde zwei Mal unter die geschwärzten Balken des Salons passen.
»Sie müssen natürlich sämtliche Betten machen und abziehen und sich um die Wäsche kümmern. Beim Gästewechsel und jede Woche, wenn sie länger bleiben. Wir haben zwei komplette Sets für jedes Bett, dazu ein paar Ersatzbezüge, falls etwas kaputtgeht. Im Sommer kann der Gästewechsel wirklich höllisch sein. Das Auschecken um zehn Uhr, und die Neuen kommen bereits ab drei an. Im Dorf stehen ein paar Frauen auf Abruf bereit, die bei den schnellen Wechseln kommen und helfen, aber meistens müssen Sie das alles allein erledigen. Sie sollten mich natürlich auf dem Laufenden halten, was ersetzt werden muss, und Sie bekommen eine kleine Handkasse für Putzmittel …«
»Wie viele Schlafzimmer sind es?«
»Zwölf. Sechs Doppel-, vier Einzelzimmer und ein paar Mansardenräume, die so etwas wie Schlafsäle sind. Jeweils mit drei Betten und ein paar Liegen. Normalerweise werden die größeren Kinder dort oben einquartiert. Im Schuppen sind auch ein paar Kinderbetten. Die Matratzen dafür befinden sich in dem scheußlichen Durcheinander, in dem Sie mich gerade angetroffen haben.«
Sie nickt, aber da er ihr in diesem Moment den Rücken zudreht, sieht er es nicht. »Gut«, sagt sie.
»Eigentlich habe ich natürlich gehofft«, fährt er fort, »ein Paar zu finden.«
»Ach. Na ja. Tut mir leid. Ich bin allein.«
»Die bleiben länger. Leisten einander Gesellschaft. Und natürlich die tagtägliche Belastung … den Garten lassen wir absichtlich ein bisschen verwildert aussehen, aber selbstverständlich nur bis zu einer bestimmten Grenze. Er wird vor dem Frühling gründlich hergerichtet werden müssen.«
»Ach.«
Er hat keine Ahnung, wie dringend sie diesen Job haben möchte. Wie bereitwillig sie sich auf alles einlassen wird, nur um von dort, wo sie jetzt wohnt, wegzukommen, von der ganzen Situation, von Kieran und der Angst und der Armut in der Stadt, die viel, viel schlimmer ist als auf dem Land. Ich könnte Gemüse anpflanzen, überlegt sie, und vielleicht kann ich irgendeine Heimarbeit annehmen, um die Abende auszufüllen. Das wäre ein Neustart, eine neue Chance. Man stelle sich vor, dass mein kleines Mädchen an einem Ort wie diesem hier aufwächst, mit so viel Platz, um herumzurennen, mit einer Schule, in der sie nicht lernen würde, auf alles mit »Verpiss dich« zu antworten. Die Nacht durchzuschlafen, ohne Angst, wer gleich durch die Tür kommen könnte. Bitte, lass mich das hier nicht vermasseln, bitte.
»Ich bin handwerklich recht geschickt«, versichert sie ihm und folgt ihm durch ein weiteres holzgetäfeltes Zimmer – von Bücherregalen gesäumt, wahrscheinlich vollgestellt mit jenen Büchern, die die Familie nicht ein zweites Mal lesen wollte – und dann eine dunkle
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