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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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regelmäßig in Schlafzimmern, in dem Wandschrank im Zimmer mit dem Himmelbett oder an anderen dunklen Orten eingesperrt, wo Spinnen lauern. Die Blakemore brüstet sich sogar damit. »In meinem Haus wird kein Kind geschlagen«, erklärt sie den Dorfbewohnern, die sie voll Bewunderung ansehen. »Davon möchte ich nichts hören.« Aber es gibt für ein Kind, das in den Docks von Portsmouth groß geworden ist, Schlimmeres als eine Tracht Prügel auf den Hintern. Diese dunklen Ecken: Lily hat eine ganze Menge davon gesehen, seit sie hierher gekommen ist. Sie hat diese dunklen Ecken und nagenden Hunger kennengelernt.
    Sie wird sicher nicht alle Türen verschlossen haben. Das hat sie nur gemacht, um mir eine Lektion zu erteilen.
    Auf dem Land verschließt man die Türen nicht. Sie prahlen sogar damit. Ein paar Leute im Dorf sind dazu übergegangen, ihr Haus abzuschließen, seit die italienischen Kriegsgefangenen auf den Farmen angekommen sind, aber keiner schließt wirklich zu.
    Während sie durch die Schneeverwehungen an der Seite des Westflügels entlangtrottet, reibt sie sich energisch die Oberarme und ist überrascht, dass sie damit eine Schneedusche auslöst. Wo kommt der ganze Schnee bloß her?
    Es sind zwanzig Minuten vergangen, seit sie ins Freie gerannt ist. Aber das weiß sie nicht. Während ihre Körpertemperatur weiter sinkt – sie liegt jetzt bei 34,5 Grad –, beginnt sie, immer wieder in einen leichten Dämmerzustand zu fallen. Nachdem sie die geschützte Veranda verlassen und sich dem beißenden Wind ausgesetzt hat, bleibt sie eine volle Minute einfach neben der schneebedeckten Sonnenuhr stehen, reglos wie eine Statue, wie vom Blick der Medusa getroffen. Ihre Beine strahlen so wenig Wärme ab, dass die Falten des Kleids allmählich daran festzufrieren beginnen.
    Lily weiß nicht, dass sie in so großer Gefahr schwebt. Denkt, die Kälte brächte nichts weiter mit sich als Schmerzen. Schließlich ist sie erst neun Jahre alt.
    Sie gelangt zur Tür der Küche im Westflügel, hebt den Riegel an. Auch diese Tür gibt nicht nach. Wieder dringt kein Licht durch die Ritzen der Tür oder an den Seiten der Fenster heraus. Auch wenn die Lichter eingeschaltet wären, würde die Verdunkelung dafür sorgen, dass nichts von ihrer Wärme in die Nacht hinausgelangt. Die Fenster befinden sich hoch in der Mauer, ein ganzes Stück außerhalb ihrer Reichweite. Und abgesehen davon sind ihre Finger inzwischen so taub, so steif, dass sie sich unmöglich würde festhalten können, um hinaufzuklettern. Überall Stille: erstickt, gedämpft, aber auch eine bewusste Stille, die Stille des Gehorsams.
    Zum Teufel mit ihr. Mit der Hexe Blakemore. Mit allen. Sie können mich hören, sie, die nicht draußen in der Kälte sind, und lauschen, was mit bösen kleinen Mädchen passiert, die nicht tun, was man ihnen sagt. Ja, Mrs Blakemore. Dan ke, Mrs Blakemore. Bitte bestrafen Sie mich nicht, Mrs Blakemore. Für die war das in Ordnung. Für die anderen. Deren Mamis und Papis gekommen sind, um sie abzuholen. Bei mir ist nicht einmal bekannt, wer mein Papa ist …
    Sie macht sich auf in Richtung der Spülküche im Ostflügel. In dem von einer Mauer umgebenen und nach Norden gelegenen Garten ist der Wind so schneidend wie ein Krummschwert. Der Schnee hat sich an der Hauswand so hoch angehäuft, dass ihr gar nichts anderes übrig bleibt, als den Schutz der Mauer zu verlassen, sich in die Mitte des Rasens zu wagen, wo es ihr vorkommt, als zerre ein Tier mit seinen eisigen Krallen an ihrem Kleid. Weil ihre Füße inzwischen taub sind, stolpert sie, ein Mal, ein zweites Mal, dann fällt sie hin, liegt in dem weißen weichen Schnee und lässt zu, dass die Kristalle um sie herum das letzte bisschen Wärme aus ihrem Rücken saugen.
    Sterne. Da sind Sterne.
    Schnee wirbelt herab.
    Lily wird allmählich schläfrig. Vergesslich. Sie kämpft darum, sich zu erinnern, was sie eigentlich vorhatte. Nach zwei Minuten, vielleicht drei, fällt es ihr wieder ein, sie dreht sich um, rappelt sich auf die Knie, stemmt sich hoch. Die Anstrengung löst bei ihr kurzzeitig Schwindelgefühle aus. Ihr Atem geht nur noch flach, da ihr Blut dicker geworden ist, und ihr Gehirn leidet bereits unter Sauerstoffmangel.
    Ich muss unbedingt pinkeln, denkt sie. Vielleicht sollte ich es einfach machen, hier auf dem Rasen der Hexe Blakemore.
    Hochnäsige Fenster blicken ungerührt auf ihre kämpfende Gestalt. Irgendwo da drin sitzt Mrs Blakemore geschützt durch die

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