Das Haus der verlorenen Kinder
sein, um Frauen allein in eine …
Sie gibt sich einen Ruck. »Hallo?«, ruft sie wieder.
Das Geräusch verstummt, als würde jemand lauschen. Wieder hört sie die Uhr in der Ferne. Aber es ist keine Uhr: Der Rhythmus ist nicht ganz richtig, nicht gleichmäßig genug. Es ist mehr, als würde irgendwo etwas immer wieder auf den Boden schlagen.
»Hallo?«
Schritte. Die Stimme eines Mannes: durchdringend, mit klarer Aussprache, eindeutig vornehm.
»Hallo?«
»Hallo?«, ruft sie wieder.
Jetzt ist er auf der Treppe und kommt herunter. Sie sieht den Hammer in seiner Hand, bevor sie sein Gesicht sieht.
»Wer sind Sie?«
»Bridget Sweeny.« Erst kürzlich hat sie den Mädchennamen ihrer Mutter angenommen, jenen Namen, der auf ihrer Geburtsurkunde steht, obwohl das nur wenige Leute wissen. Ihre Gefühle gegenüber ihrem Ehenamen haben sich mit den Erfahrungen verändert, aber was noch wichtiger ist, sie muss sich von den Dingen, an die Kieran sich erinnern wird, distanzieren, wenn sie das hier durchziehen will.
»Ach.«
Er steht in der Tür. Schlicht wie die Stimme; ein hervorstehender Adamsapfel und dunkle Haare mit ausgeprägten Geheimratsecken. Er ist Ende dreißig, schätzt sie – etwa fünf Jahre älter als sie –, und sieht eher ein bisschen älter aus, vor allem, weil seine Haut von Kupferfinnen durchzogen ist, die auf seinen Wangen Knötchen und Pusteln bilden.
»Sie sind früh dran«, stellt er mit einem leisen Vorwurf in der Stimme fest.
»Tut mir leid«, antwortet sie. »Es ist schwierig, genau pünktlich zu sein, wenn man von London bis hierher fährt.«
Er ignoriert den Hinweis. »Wie auch immer. Jedenfalls besser als zu spät, denke ich. Ich hatte gehofft, die Wohnung noch ein wenig aufräumen zu können, bevor Sie hier ankommen. Die letzte Bewohnerin hat sie ein bisschen … Tom Gordhavo.«
Einen Augenblick denkt sie, dass das irgendein hiesiger Ausdruck sein muss, bevor ihr einfällt, dass das sein Name ist. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen«, sagt sie und schüttelt ihm die Hand.
»Ganz meinerseits«, antwortet er.
3
Nun, sie sieht anständig aus, denkt er. Allerdings kann man das natürlich nicht auf den ersten Blick sagen. Aber nach Tom Gordhavos Erfahrung ist Unehrlichkeit gewöhnlich mit übertriebener Freundlichkeit gepaart, und diese Frau ist eher ein wenig reserviert. Das gefällt ihm sogar. Er hat keine Zeit für Angestellte, die ihm jedes Detail ihrer Lebensgeschichte und ihres Gesundheitszustands erzählen wollen. Sie fragt lediglich, ob es möglich wäre, ein Tor in die Hecke, die den Garten vom Teich trennt, einzubauen, um zu verhindern, dass ihre sechs Jahre alte Tochter dort allein hinspaziert, was ihm ein vernünftiges Anliegen zu sein scheint. Er hatte es ohnehin vorgehabt, weil sich ein paar der Feriengäste im letzten Jahr über diese Gefahrenquelle beschwert haben. Ein Unfall würde die Chance, in die Broschüren aufgenommen zu werden, höchstwahrscheinlich ein wenig mindern. Also stimmt er bereitwillig zu. Er umgibt sich bewusst mit einer Aura wie Frances Hodgson Burnett bezüglich des Grundstücks als einzigartig wertsteigerndes Merkmal des Hauses, aber es gibt Dinge, die Feriengäste als malerisch ansehen, und andere, die schlichtweg gefährlich sind. Er speichert den Vorschlag als Beweis, dass sie allem Anschein nach recht vernünftig ist. Initiativ würde sie es wahrscheinlich nennen, da sie zweifellos von dem Modevokabular der Londoner Geschäftswelt infiziert ist. Er beschließt, das Wort einzusetzen und abzuwarten.
»Ich brauche jemanden«, sagt er, während er sie durch das Speisezimmer führt, »der ein wenig initiativ werden kann.«
Hinter seinem Rücken hält sie ganz kurz inne, während sie das Wort verarbeitet, und er unterdrückt ein Grinsen.
»Nun«, antwortet sie gelassen, »ich habe mehrere Jahre mein eigenes Geschäft geführt, bevor ich meine Tochter bekommen habe. Deshalb denke ich, dass ich daran gewöhnt bin, Entscheidungen zu treffen.«
»Ach, tatsächlich?« Ihr eigenes Geschäft, denkt er. Könnte alles Mögliche gewesen sein. Public Relations. Einkuvertieren. Wer weiß, vielleicht ist sie pleite gegangen. Warum würde sie sich sonst für den Job einer Haushälterin bewerben, wenn sie andere Möglichkeiten hätte?
»Welche Art von Geschäft?«, fragt er und bemüht sich, seine Stimme nicht argwöhnisch klingen zu lassen.
»Ich war Floristin.«
Sie bleiben am Ende des Zimmers vor der Eingangstür stehen, vor einem Tisch, auf dem in einem
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