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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Jupiter, in der rechten trug sie den Strahler und versuchte, sich gleichzeitig an der Treppenspindel abzustützen. Dabei irrlichterte der Schein immer wieder über das Geländer hinaus ins Dunkel. Pascales Worte flammten wie eine Warntafel hinter ihrer Stirn auf. Kein Licht. Es lockt etwas an.
    »Sie können sich nicht vorstellen, wie das ist«, rief Trojan von oben. »Ein ganzes Leben lang schaut man auf die Schöpfungen Michelangelos und Berninis, wird jeden Tag von neuem mit ihrem Genie konfrontiert und darf doch nie selbst etwas erschaffen. Immer nur ausbessern, reparieren, aber niemals etwas Neues gestalten! Ich hatte Pläne, wundervolle Pläne, aber man hat mir nicht zugehört.« Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Die allerersten Bauten, die die Menschheit entwarf, waren Labyrinthe. Die alten Höhlenzeichnungen sind voll davon. Die Labyrinthisierung, die vom Haus des Daedalus ausgeht, wird der Urschlamm einer neuen Architektur sein. Aus dem Chaos wird etwas Neues erstehen, etwas vollkommen anderes! Das Tor muß offenbleiben, und was immer auch hier unten ist, muß entweichen … stellen Sie sich vor … die Welt als ein einziges, unermeßliches Labyrinth! Die Infizierung hat bereits begonnen. Das alles hier, Sie, ich, unsere Geschichte, sind vielleicht schon Teile des Labyrinths. Ist das hier noch die Wirklichkeit?«
    Das Brüllen stieg aus dem Dunkel herauf, weniger hallend, weniger fern. Und dann hörten sie auch ein Rauschen, so als schwebe etwas auf mächtigen Schwingen nach oben, unsichtbar im Dunkeln.
    »Mach das Licht aus«, krächzte Jupiter.
    »Ohne Licht sehen wir nicht …«
    »Mach es aus! Schnell!«
    Coralina überlegte, ob die Verletzung ihn halluzinieren ließ, aber sie hörte es ja selbst, das Rauschen und das Brüllen, und sie .
    Ein kreischendes Gelächter ertönte in der Schwärze des Abgrunds.
    Coralina glaubte erst, es sei Trojan.
    Doch das Lachen wiederholte sich, hielt diesmal länger an. Es war mit keinem Laut vergleichbar, den Coralina je zuvor gehört hatte. Ihr wurde eiskalt. Jupiter verkrampfte sich in ihrem Arm.
    »Das Licht«, flüsterte er. »Mach die verdammte Lampe aus!«
    Ihr Daumen schob den Regler des Handstrahlers zurück. Das Licht erlosch. Augenblicklich waren sie in wattige Schwärze gehüllt. Coralina spürte, daß Jupiter ihr einen Finger an die Lippen legte und ihr bedeutete, nicht mehr zu sprechen. Stocksteif und schweigend standen sie da, mit dem Rücken an die feuchtkalte Treppenspindel gelehnt … und warteten.
    Es war nicht völlig dunkel im Haus des Daedalus.
    Unter ihnen dämmerte ein sanfter Schein. Im ersten Moment hielten sie es für eine Täuschung, doch dann, als sie begriffen, daß da tatsächlich ein Licht war, brachten sie nicht mehr den Mut auf, an das Geländer zu treten und in die Tiefe zu blicken.
    Das Gelächter kam näher, ein irrsinniges, hysterisches Kreischen, voller Leid und Qual und der Freude am Schmerz. Die Quintessenz jahrtausendealten Deliriums.
    Jupiter und Coralina klammerten sich aneinander, während der Schein von unten emporstieg, mit rasender Geschwindigkeit emporflog, aus der unfaßbaren Tiefe eines Abgrunds, ausgehoben, um es mit der Unterwelt selbst aufzunehmen.
    Auch das Rauschen war wieder zu hören. Irgend etwas glitt steil in die Höhe, umschwebte und belauerte sie … und wurde wieder vom animalischen Brüllen des Stiers übertönt, eine Eruption unmenschlicher Wut und Mordlust.
    Es sind drei, dachte Jupiter schaudernd. Das Rauschen, das Brüllen und das Lachen. Drei Geräusche, drei Wesen.
    Der Geist und das Feuer und der Stier, hatte Pascale geflüstert. Eine unheilige Dreifaltigkeit als Herrscher über den schwarzen Schlund.
    Und dann tauchte ein zweites Licht auf, nicht unter, sondern über ihnen. Es irrlichterte über den Rand der Treppe, suchend, tastend, begleitet von einer Stimme: »Ich weiß, daß Sie da unten sind. Ich weiß es!«
    Obwohl sie Trojan nicht erkennen konnten, sahen sie doch das Licht, mit dem er zu ihnen herableuchtete. Und sie sahen eine Hand, die sich zitternd zwischen den Steinsäulen des Geländers hervorschob, in ihren Fingern die Pistole, die ziellos nach unten gerichtet wurde, weil Jupiter und Coralina dort sein mußten.
    Ein Schuß peitschte, dann ein zweiter. Trojan feuerte blind in die Tiefe. Die Kugeln schlugen zwei Schritte vor ihren Füßen auf, stanzten Krater in die Stufen.
    Coralina zog Jupiter eine halbe Drehung tiefer, brachte die Treppenspindel zwischen sich und die

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