Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer

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anstrengen. Wir bringen Sie in ein Krankenhaus. Sie werden es schon schaffen.«
    Unter den geschlossenen Lidern gerieten Pascales Augäpfel in hektische Bewegung, huschten hin und her, wie bei einem Träumenden. »Habe es … gesehen … das Panorama … «
    »Scht«, machte Coralina und nahm die Hand des Mönchs in ihre.
    »Nicht reden.«
    Aber Pascale ließ sich nicht abbringen. »So … groß.«
    Der Geruch, der von dem Mann ausging, war entsetzlich, aber Jupiter versuchte ihn zu ignorieren. Er nahm die Stufen so schnell er konnte, auch wenn er wußte, daß es vernünftiger gewesen wäre, langsamer zu gehen, mit seinen Kräften hauszuhalten.
    »Nicht … sprechen«, flüsterte Pascale, während seine Augen hinter den geschlossenen Lidern noch immer einen wilden Tanz vollführten.
    Jupiter glaubte erst, der Mönch habe nur Coralinas Worte wiederholt, doch als Pascale fortfuhr, begriff er, was er meinte: »Sicher nur … im Dunkeln und … schweigend!« Ein trockenes Röcheln unterbrach seinen Wortfluß. »Licht lockt … es an. Und Stimmen. Nicht sprechen. Nicht sprechen! Und … kein Licht! Nur deshalb … überlebt.«
    Coralina blickte besorgt auf den Strahler, den sie von Jupiter übernommen hatte. »Kann man das Licht irgendwie dimmen?«
    »Nein.«
    Ein Aufstieg in absoluter Finsternis war so gut wie unmöglich, zumal mit der Last in Jupiters Armen. Die Lampe mußte eingeschaltet bleiben.
    Sie wurden schneller. Coralina bot Jupiter an, ihm beim Tragen zu helfen, aber sie wußte ebensogut wie er selbst, daß sie das nur noch mehr aufgehalten hätte. Pascale hielt sich jetzt an seinen eigenen Rat und schwieg. Die letzten Kräfte verließen ihn, sein Körper schien mit jedem Schritt schlaffer zu werden. Auch Jupiter und Coralina waren verstummt. Nur aufwärtsgehen, die nächste Stufe, und noch eine.
    Jupiter dachte über die letzten Worte des Mönchs nach. Licht lockt es an. Was war es, das vom Licht angelockt wurde? Und was hatte Pascale dort unten erlebt?
    Sie hatten zwei Drittel des Aufstiegs bewältigt, als sie abrupt stehenblieben.
    Aus der Tiefe erklang ein markerschütterndes Brüllen. Erst leise und dumpf, dann immer lauter, ehe es schließlich verhallte.
    Pascale riß die Augen auf. Seine Augäpfel hatten die Farbe vergilbten Papiers. Sein Mund bewegte sich, aber er brachte keinen Ton heraus.
    »Komm, schneller!« flüsterte Jupiter. Er hatte dieses Brüllen schon einmal gehört … mit dem Unterschied, daß es jetzt klarer klang, realer, beinahe greifbar.
    Sie nahmen die Stufen nun fast im Laufschritt, obwohl sie wußten, daß sie so nicht lange durchhalten würden.
    Flieht! Beeilt euch! Lauft weg!
    Das Brüllen ertönte erneut. Jupiter mochte sich täuschen, aber er glaubte, daß es nicht näher gekommen war. Vielleicht hatten sie Glück.
    Pascale bewegte wieder die Lippen, dann sackte sein Kopf zur Seite. Seine Augen schlossen sich.
    Coralina keuchte. »Ist er …«
    »Nein, er atmet noch … nur bewußtlos«, gab Jupiter erschöpft zurück. Der Körper in seinen Armen wurde immer schwerer, genau wie seine eigenen Beine. Jedes Heben der Füße wurde zur Mühsal, jede Stufe zur Tortur.
    Zehn Minuten später sahen sie über sich die Decke. Jupiter wagte noch immer nicht, mit dem Strahler nach oben zu leuchten, doch selbst in dem schwachen Schein, der von den Stufen reflektiert wurde, war die steinerne Ebene über ihren Köpfen zu erkennen, grob und bucklig, wie geronnene Gewitterwolken. Der Stein war pechschwarz, mit Pilzen und Flechten überzogen.
    Trotzdem ließen sich an manchen Stellen noch Fugen erkennen. Die Decke war nicht aus Fels gehauen, sie war gemauert. Das machte ihren Anblick noch unglaublicher.
    Das Ende der Treppe schraubte sich als zylinderförmiger Schacht in die Decke. Auf den letzten zwanzig Stufen ersetzten massive Wände das Geländer. Jupiter atmete auf; nach der bedrückenden Weite des Abgrunds glaubte er zu verstehen, wie sich ein Mensch mit Agoraphobie fühlen mußte. Die schiere Größe dieser Anlage war mehr, als sein Verstand zu fassen vermochte.
    Wenn er wieder an der Oberfläche war, vielleicht nach ein paar Tagen oder Wochen, würde er vermutlich all das hier unten als Illusion abtun. Die Existenz dieses Ortes setzte alle Gesetze der Logik außer Kraft. So etwas konnte, so etwas durfte nicht existieren. Ein wenig Amateurpsychologie reichte aus, um sich darüber klarzuwerden, daß die Schutzmechanismen seines Bewußtseins all das hier unten auslöschen würden. Die