Das Haus des Daedalus
Einschüsse. Trojan mußte am Ende seiner Kräfte sein, wenn er sich auf eine solche Verzweiflungstat einließ. Er war ein alter Mann, und er war krank und schwach.
Noch ein Schuß.
Sicher nur im Dunkeln … und schweigend.
Coralina und Jupiter gingen in die Hocke, preßten sich eng aneinander, zogen die Köpfe ein, versteckten sich hinter der Treppenspindel.
Nicht vor Trojan.
Das Licht von unten wurde heller, gelb und rot und orange. Feuerschein! Etwas stieg aus der Tiefe empor, brennend, lodernd, von einer Aureole aus kochender Hitze umgeben, heiß genug, um den Stein der Stufen schlagartig zu erwärmen.
Dann hörten sie Trojans Schreie.
Für einige Sekunden übertönte er sogar das Brüllen des Stiers. Eine Glocke aus Gestank senkte sich auf sie herab. Es roch nach brennendem Fleisch und verschmortem Haar, und noch immer brachen die Schreie des alten Mannes nicht ab, gellend und voller Todesangst.
Der Feuerschein hatte seine höchste Intensität erreicht, hing jetzt auf einer Höhe mit den beiden, genau auf der anderen Seite der Spindel. Die breite Steinsäule verbarg sie vor dem, was dort drüben war, schützte sie vor seinen Blicken und vor der Hitze.
Im letzten Moment aber konnte Jupiter sich nicht mehr zurückhalten, achtete nicht auf den Schmerz, auch nicht auf Coralina, die ihn zurückhalten wollte. Er schaute um die Spindel und sah gerade noch etwas wie ein Kreuz aus Feuer … vielleicht ein brennender Mensch mit ausgebreiteten Armen, ausgebreiteten Schwingen … und mit ihm in einem zuckenden Tanz aus Glut und zerfließendem Fleisch den Körper des Alten, Trojans Leichnam, hinabgetragen in den Abgrund.
Das Licht verblaßte, wurde zu Dämmer, löste sich auf in Düsternis.
Der Geist und das Feuer …
Der Vater und der Sohn.
Jupiters Gedanken rotierten in einem Reigen aus Schmerz und Fassungslosigkeit. Was, wenn die Götter ihren Pakt mit Daedalus eingehalten hatten? Wenn sie ihm seinen Sohn tatsächlich zurückgegeben hatten, lebend und brennend bis in alle Ewigkeit, gefangen in jahrtausendelanger Pein jenseits aller Vorstellungskraft?
Er fand keine Antwort, nur ein Kaleidoskop vager, traumgleicher Bilder und Vermutungen.
Das Feuer wurde endgültig von der Tiefe verschluckt, und zurück blieb nichts als Schwärze. Finsternis schob sich durch das Geländer, verschlang sie, hüllte sie ein.
Aber es war noch nicht vorbei.
Das Brüllen des Stiers kam wieder näher, tobte unter ihnen die Treppe herauf, ließ die Stufen und die Spindel erzittern. Staub rieselte aus den Fugen über ihren Köpfen, ein feiner grauer Nebel wie aus Asche.
»Los«, flüsterte Coralina. »Wir müssen zurück.«
Jupiter kämpfte gegen den Schmerz. Er hatte keine Kraft mehr in dem angeschossenen Bein, es schleifte mehr, als daß es ihn stützte.
Gemeinsam schleppten sie sich im Stockfinsteren die Stufen hinauf. Das, was ihnen brüllend und trampelnd folgte, mußte um ein Vielfaches schneller sein als sie, aber noch hatten sie einen gehörigen Vorsprung.
Ein kurzer, heftiger Windstoß traf sie ins Gesicht und ließ sie erstarren.
Schwingen, durchfuhr es Jupiter. Unsichtbare Schwingen im Dunkeln.
Die Schwingen eines Geistes, der sie beobachtete, aber nicht eingriff. Nur zusah, vielleicht hoffte, für sie oder für die Bestie auf ihrer Spur.
Keine Zeit zum Zögern. Keine Zeit zum Nachdenken.
Weiter. Nach oben.
Sie konnten die Stufen unter ihren Füßen nicht sehen, und regelmäßig stolperte einer von ihnen, drohte den anderen mitzureißen. Aber Coralina entwickelte Kraft und Geschick für zwei, zerrte ihn mit sich, wenn sein gesundes Bein zu erlahmen drohte oder der Schmerz ihn Dinge sehen ließ, die nicht da waren.
Ein Hauch von Helligkeit, ein Hauch von Licht schälte sich vor ihnen aus der ewigen Nacht. Die Form des Tors, zaghaft umrissen vom Licht der Knochengruft.
Hinter ihnen tobte das Brüllen heran. Sie konnten jetzt etwas riechen, animalischen Gestank, heiß und schwül und widerwärtig, wie in einem Raubtierkäfig.
»Er kommt!« stieß Jupiter aus, als sie die letzten Stufen hinauftaumelten.
Coralina schaltete ihren Verstand ab, ihre Vernunft, ihre Angst. Sie blickte nur nach vorne, der Oberwelt, ihrer Rettung entgegen. »Das Tor ist … schmäler geworden.«
Keine Luft mehr. Seitenstechen. Krämpfe in den Waden.
Und wieder das BRÜLLEN …
Pascale war fort. Im Dunkeln hätten sie über ihn stolpern müssen.
Dann begriff Jupiter, warum das Tor schmaler geworden war, immer noch schmäler wurde.
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