Das Haus des Windes
meiner Muttergegessen. Er hatte schon während der Fahrt auf mir gelastet und lag mir jetzt schwer und warm im Magen. Ich hätte mich gern wieder ins Bett gelegt, und Father Travis wahrscheinlich auch. Er sah blass aus, als hätte er nicht so gut geschlafen. Er war unrasiert. Die Haut unter seinen Augen war bläulich, und sein Atem roch scharf nach Kaffee. Auf dem Tresen der Cafeteria standen säuberlich eingepackte Essensreste, und die Mülleimer waren gestopft voll.
War hier gestern eine Totenwache?, fragte ich.
Bugger Pouriers Mutter ist gestorben. Das bedeutet auch, dass wir ihn wahrscheinlich nicht wiedersehen werden. Er wollte sich mit der Kirche aussöhnen, solange sie noch bei Bewusstsein war. Übrigens habe ich ein Buch für dich. Er gab mir eine weiche, alte, zerlesene Taschenbuchausgabe von Dune . Also. Wie wär’s, wenn wir mit der Eucharistie anfangen? Du warst doch mit Angus bei der Messe. Hast du verstanden, was da vor sich ging?
Ich hatte die Broschüre auswendig gelernt, also sagte ich ja.
Erklärst du es mir?
Da wurde Gnade produzierende Nahrung für unsere Seelen ausgeteilt.
Sehr gut. Und weiter?
Das Leib und das Blut Christi waren in dem Wein und den Keksen?
Den Hostien, genau. Und weiter?
Während ich mir noch den Kopf zermarterte, hörte der Regen auf. Ein plötzlich aufflammender Sonnenstrahl traf auf das schmutzige Glas der Kellerfenster und wirbelte leuchtende Staubpartikel auf. Schimmernde Lichtschleier durchzogen schräg den Kellerraum.
Äh, spirituelle Nahrung?
Richtig. Father Travis lächelte über die tanzenden Lichtstrahlen um uns her und sah zum Fenster hoch. Es sind ja nur wir zwei, also was hältst du davon, wenn wir den Unterricht nach draußen verlegen?
Ich folgte Father Travis die Treppe hoch, durch die Seitentür und den Pfad entlang, der unter den tropfenden Kiefern verlief. Der grasbewachsene Weg beschrieb einen Bogen hinter der Schule und der Sporthalle, durch die Baumreihen und dann zu der Straße hinunter, wo das dramatische Finale von Cappys Sprint stattgefunden hatte. Unterwegs erzählte er mir, dass ich mich, bevor ich durch die Eucharistie Teil des mystischen Leibs Christi würde, durch das Bußsakrament läutern solle.
Um dich zu läutern, musst du dich erst einmal verstehen, fuhr Father Travis fort. Alles, was es da draußen in der Welt gibt, ist auch in dir. Das Gute, das Schlechte, das Böse, die Vollkommenheit und der Tod, einfach alles. Deshalb müssen wir unsere Seelen erforschen.
Mh-hm, sagte ich lustlos. Pater, da! Ein Erdhörnchen!
Ja, ein Erdhörnchen. Er blieb stehen und sah mich an. Und, wie steht’s mit deiner Seele?
Ich sah mich um, als würde meine Seele jeden Moment irgendwo auftauchen, und ich könnte nachsehen. Aber da war nur Father Travis’ sorgsam geglättetes, allzu gutaussehendes Gesicht mit den ernsten, blassen Augen, die unheimlich leuchteten, und dem fein ziselierten Mund.
Weiß nicht, sagte ich. Ich würde gern ein paar Erdhörnchen schießen.
Er ging wieder los, und ich sah ihn von Zeit zu Zeit von der Seite an, aber er schwieg. Erst als wir bei den Bäumen waren, sagte er: Das Böse.
Was?
Wir müssen über das Problem des Bösen reden, wenn wir deine Seele oder allgemein die menschliche Seele verstehen wollen.
Okay.
Es gibt verschiedene Formen des Bösen, wusstest du das? Einmal das materielle Böse, das ohne Bezug auf die Menschen menschliches Leid verursacht. Krankheiten, Armut und alle möglichenKatastrophen. Das materielle Böse. Daran können wir nichts machen. Wir können nur akzeptieren, dass seine Existenz ein Mysterium bleibt. Mit dem moralischen Bösen ist es anders. Das wird von Menschen verursacht. Jemand tut absichtlich etwas, um einem anderen Schmerzen und Qualen zuzufügen. Das ist das moralische Böse. Du bist hergekommen, Joe, und willst deine Seele erforschen, weil du hoffst, Gott näherzukommen, weil Gott allgütig, allmächtig ist, heilend und gnädig und so weiter. Er unterbrach sich.
Mh-hm, sagte ich.
Also wirst du dich fragen, wie ein so gewaltiges, machtvolles Wesen so einen Frevel zulassen kann – wie Gott einem Menschen erlauben kann, einem anderen Schaden zuzufügen.
In mir schmerzte etwas; es fuhr mitten durch mich hindurch. Ich ging weiter, den Blick gesenkt.
Die einzige Antwort darauf, und es ist keine vollständige Antwort, sagte Father Travis, lautet, dass Gott den Menschen als freies Wesen geschaffen hat. Wir können das Gute dem Bösen vorziehen, aber auch umgekehrt. Und um
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