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Das Haus des Windes

Das Haus des Windes

Titel: Das Haus des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Erdrich
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viel bessser aus der anderen Richtung über die Uferstraße erreichen. Natürlich hatte der Vergewaltiger – das Wort benutzte ich allerdings nie, ich benutzte Angreifer –, hatte der Angreifer sich ausgerechnet, dass sich niemand hierher verirren würde. Das hieß aber, dass er sich im Reservat auskannte und dass er vorausgeplant hatte. An dem Strand da unten trafen sich die Leute abends zum Trinken, aber vom Rundhaus aus hätte man über einen Stacheldrahtzaun steigen und sich durchs Unterholz schlagen müssen, um da hinzukommen. Der Angriff war ungefähr da passiert, wo ich jetzt stand. Hier hatte er sie zurückgelassen, um neue Streichhölzer zu holen. Die Vorstellung, wie meine Mutter in Panik zum Auto gekrochen war, blendete ich aus. Ich stellte mir vor, wie weit der Angreifer gelaufen sein musste, wenn er nicht rechtzeitig zurückgekommen war, um sie zu erwischen.
    Meine Mutter hatte sich aufgerappelt und war den Hügel runter zum Auto gerannt. Wenn er sie nicht gesehen hatte, musste der Angreifer in die Gegenrichtung, nach Norden gegangen sein. Ich ging denselben Weg, den er eingeschlagen haben musste,durch das hohe Gras den Hügel runter bis zum Stacheldrahtzaun. Ich hob den oberen Draht und schlüpfte darunter durch. Ein zweiter Zaun führte durch das dichte Birken- und Pappelgestrüpp zum See. Ich folgte ihm den Hang runter und ging geradeaus weiter ans Ufer.
    Er musste irgendwo ein Versteck für seine Sachen gehabt haben oder vielleicht ein Auto, das hinter dem Strand abgestellt war. Er hatte das Versteck erreicht. Hatte die Autotür zuklappen hören. War zum Rundhaus zurückgerannt, meiner Mutter hinterher. Aber zu spät. Sie hatte den Motor gestartet, war aufs Gas gestiegen. Sie war entwischt.
    Ich ging weiter, über den schmalen Strand und in den See. Mein Herz klopfte wegen der Szene, die ich mir ausmalte, so sehr, dass ich das Wasser nicht spürte. Ich spürte nur seine Wut, als er das Auto wegfahren sah. Ich sah, wie er den Benzinkanister aufhob und ihn fast dem Auto hinterhergeschleudert hätte. Er rannte ein Stück, kam wieder zurück. Dann fielen ihm plötzlich die Sachen ein, sein Auto oder was auch immer, seine Zigaretten. Und der Kanister. Mit dem durfte er sich nirgends blicken lassen. Trotz der Kälte in diesem Mai, als das Eis getaut, das Wasser aber noch eisig war, war er ein Stück in den See gewatet, um den Blechkanister mit Wasser zu füllen. Und dann hatte er das schwere Ding so weit wie möglich rausgeworfen, und da würde es, wenn ich tauchte und mit den Händen den schlammigen, algigen, lehmigen, schneckenbesetzten Grund des Sees absuchte, auch jetzt noch sein.
    * * *
    Als meine Freunde kamen, hockte ich, immer noch nass, vor dem Rundhaus in der Sonne und hatte den Kanister zu meinen Füßen ins Gras gelegt. Ich war froh, sie zu sehen. Ich hatte jetzt begriffen, dass der Angreifer versucht hatte, meine Mutter zu verbrennen. Das war aus der Reaktion meiner Tante und aus der Beschreibung meines Vaters längst klargeworden, oder zumindest hätte ich es mir denken können, aber mein Verstandhatte sich dagegen gewehrt. Als ich den Kanister fand, zitterte ich, dass meine Zähne aufeinanderschlugen. Wenn ich mich so sehr aufregte, musste ich manchmal kotzen. Das war im Auto nicht passiert, im Krankenhaus auch nicht und nicht einmal, als ich meiner Mutter vorgelesen hatte. Vielleicht war ich zu benommen gewesen. Jetzt fühlte ich tief in meinem Bauch, was mit ihr geschehen war. Ich grub ein Loch für das Ergebnis und häufte Erde darüber. Dann hockte ich mich entkräftet hin. Als ich Stimmen und Fahrradgeräusche hörte, Cappys Füße beim Bremsen und die Rufe der anderen, sprang ich auf und klatschte wärmend auf meine Arme. Sie sollten mich nicht wie ein Mädchen bibbern sehen. Als sie kamen, tat ich, als sei das kalte Wasser schuld. Angus sagte, ich hätte blaue Lippen, und bot mir eine filterlose Camel an.
    Das waren die besten Zigaretten, die man überhaupt klauen konnte. Stars Freund rauchte sonst No-names, er musste zu Geld gekommen sein. Angus zog sie ihm einzeln aus der Tasche, damit er nichts merkte. Heute hatte er ausnahmsweise zwei besorgt. Ich brach meine Kippe vorsichtig durch und gab Cappy die Hälfte ab. Zack und Angus teilten sich die andere. Ich zog, bis mir die Glut die Finger versengte. Wir schwiegen beim Rauchen, und als wir fertig waren, schnickten wir uns wie Elwin die Krümel von der Zunge. Der Kanister war verbeult und mattrot mit goldenen Streifen am oberen

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