Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus des Windes

Das Haus des Windes

Titel: Das Haus des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Erdrich
Vom Netzwerk:
Baustellenkegeln und bemalten Ölfässern abgesperrt. Das musste wohl die Polizei gewesen sein. Ich schob mein Fahrrad weiter und sah mir genau den Boden und die Büsche an. Der Weg war im Laufe der letzten Wochen ziemlich zugewuchert. Ich suchte nach irgendetwas, das allen anderen entgangen war, wie in Whiteys Krimis. Aber da war nichts Deplatziertes, oder besser gesagt, war da in diesem chaotischen, wilden Gehölz nichts Platziertes zu entdecken. Nichts Geordnetes. Nichts, das mir irgendwie komisch vorkam. Kein leerer Behälter, kein Flaschenverschluss, kein abgebranntes Streichholz. Der ganze Weg war schon systematisch nach allem abgegrast worden, das hier nicht hingehörte, und ich erreichte die Lichtung mit dem Rundhaus, ohne dass ich etwas Brauchbares oder Interessantes gefunden hätte.
    Das Gras war noch nicht gemäht, aber wo die Autos immer parkten, war der Boden von kleinen Pflanzen bedeckt. Pferde hatten alle essbaren Kräuter mitsamt Wurzeln ausgerissen, und jetzt raschelte struppiges Unkraut unter den Reifen meines Fahrrads. Das sechseckige Holzgebäude stand auf einem kleinen Hügel inmitten von üppigem, langem, leuchtend grünem Gras. Ich ließ mein Fahrrad liegen. Für einen Augenblick herrschte intensive Stille. Dann strich mit einem leisen Stöhnen der Wind durch die Ritzen zwischen den silbrig verwitterten Bohlen. Ich fuhr zusammen. Der schmerzliche Laut schien von dem Rundhaus selbst zu kommen. Er erfüllte mich und spülte über mich hinweg. Endlich verebbte er wieder. Ich beschloss weiterzugehen.Auf dem Weg den Hügel hoch richtete mir ein Luftzug die Nackenhaare auf. Aber als ich das Rundhaus erreichte, legte sich die Sonne auf meine Schultern wie eine wärmende Hand. Es war ein friedvoller Ort. Das Haus hatte keine Tür. Es hatte mal eine gegeben, aber das große hölzerne Rechteck war herausgerissen worden und lag ein Stück abseits auf dem Boden. Durch die Ritzen zwischen den Platten war schon Gras gewachsen. Ich blieb im Eingang stehen. Drinnen war es dämmrig, obwohl es vier kleine, kaputte Fenster gab, eins in jede Himmelsrichtung. Der Boden war sauber – keine Flaschen, Zeitungen oder Decken. Das hatte alles die Polizei eingesammelt. Ich bemerkte einen leichten Benzingeruch.
    In den alten Zeiten, als Indianer ihre Religion nicht ausüben durften – so alt waren sie gar nicht: vor 1978 –, hatten sie das Rundhaus für ihre Zeremonien benutzt. Die Leute gaben vor, sich für Tanzveranstaltungen zu treffen, oder brachten zu ihren Versammlungen Bibeln mit. Die Autoscheinwerfer des Priesters schienen damals, wenn er die lange, gerade Straße heraufkam, zum Südfenster herein. Bis der Priester – oder der BIA-Inspektor – beim Rundhaus angekommen war, waren die Wassertrommeln, Adlerfedern, Medizinbeutel, Birkenrollen und Pfeifen in Motorbooten halb über den See geschafft. Die Bibeln waren aufgeschlagen, und die Leute lasen aus dem Prediger Salomo. Warum gerade den?, hatte ich Mooshum einmal gefragt. Kapitel eins, Vers vier, hatte er gesagt. Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt immer bestehen. Das glauben wir auch. Manchmal haben wir auch Square Dance getanzt, sagte Mooshum. Unser höchster Midew war ein verdammt guter Ausrufer.
    Einen alten katholischen Priester hatte es gegeben, der sich mit den Medizinmännern zusammensetzte. Father Damien hatte den BIA-Mann nach Hause geschickt, und dann wurden die Wassertrommeln und Federn und Pfeifen wieder zurückgeholt. Der alte Priester hatte ihre Lieder auswendig gelernt. Heute kannte kein Geistlicher mehr diese Lieder.
    Aus Zacks Bericht und dem Schweigen meines Vaters hatte ich mir zusammengereimt, wo der ungefähre Schauplatz des Verbrechens gewesen war. Aber nicht die genaue Stelle. In dem Moment überkam mich Gewissheit. Ich spürte es. Hier hatte er sie angegriffen. Das alte Rundhaus hatte zu mir gesprochen, hatte mit der schmerzerfüllten Stimme meiner Mutter nach mir gerufen, dachte ich, und Tränen schossen mir in die Augen. Ich ließ sie mir über die Wangen laufen. Niemand konnte mich sehen, also wischte ich sie nicht einmal weg. Ich stand da im Durchgang und dachte mit meinen Tränen. Ja, sicher, warum sollten Tränen keine Gedanken sein?
    Ich konzentrierte mich auf die Flucht, wie mein Vater sie beschrieben hatte. Unser Auto hatte am Fuß des Hügels hinter einem Gebüsch geparkt. Von da wäre sowieso nie jemand die Straße entlanggekommen. Es gab ein Stückchen weiter einen Strand, aber den konnte man

Weitere Kostenlose Bücher