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Das Haus des Windes

Das Haus des Windes

Titel: Das Haus des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Erdrich
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der Kirche auf dem Hügel zu Tal tuckerte. Meiner Mutter war nie klargeworden, dass Kraniche sehr berechenbar sind und immer zur selben Zeit die Jagd beenden, um zu ihrem Schlafplatz zurückzukehren. Gerade flog der Kranich, den sie so oft gesehen hatte, oder einer seiner Nachfahren, gemächlich an meinem Fenster vorüber. An jenem Abend warf er kein Abbild seiner selbst, sondern das eines Engels an meine Wand. Ich betrachtete diesen Schatten. Durch irgendeine Brechung des hellen Glanzes waren die Flügel zu beiden Seiten des schlanken Körpers aufwärtsgewölbt. Dann fingen die Federn Feuer, und die Gestalt wurde vom Licht verzehrt.

KAPITEL ACHT
RIKERS VERSUCHUNG
    Meine Mutter hatte den Job, jedermanns Geheimnisse zu kennen. Die alten Stammesregister des Gebiets, das später unser Reservat werden sollte, reichen bis vor 1879 zurück und enthalten eine Beschreibung jeder Familie, ihrer Stammes- und Clanzugehörigkeiten, ihrer Berufe, Beziehungen, Lebensalter und die Namen in ihrer eigenen Sprache. Damals hatten viele zusätzlich einen französischen oder englischen Namen angenommen oder waren getauft worden und trugen deshalb den Namen eines katholischen Heiligen. Meine Mutter hatte die Aufgabe, die immer komplizierteren Verästelungen und Verflechtungen jedes Stammbaums nachzuverfolgen. Im Laufe der Generationen sind wir zu einem undurchdringlichen Gestrüpp aus Namen und Verbindungen geworden. Auf den Spitzen jedes Zweigs sitzen natürlich die Kinder, die von ihren Eltern registriert werden, oft auch von der Mutter oder dem Vater allein, mit einem Karteikartenelternteil, dessen Identität, wenn man sie lüftete, an den Zweigen anderer Bäume rütteln würde. Kinder des Inzests, der Nötigung oder Vergewaltigung, des Ehebruchs oder der Unzucht, jenseits der Grenzen des Reservats oder innerhalb, Kinder weißer Farmer, Banker oder Nonnen, Kinder von BIA-Inspektoren und Priestern. Meine Mutter verschloss ihre Akten in einem Safe. Niemand außer ihr kannte die Kombination für das Schloss, und auf ihrem Schreibtisch häuften sich mittlerweile die Registrierungsanträge.
    * * *
    Special Agent Bjerke war am nächsten Morgen wieder in unserer Küche, um das Problem anzugehen, wie er meine Mutter zu der Akte befragen sollte.
    Würde es helfen, wenn wir eine Frau dahätten, die das Gespräch führt? Wir könnten eine Agentin aus dem Büro in Minneapolis kommen lassen.
    Ich glaube nicht. Mein Vater hantierte mit dem Tablett herum, auf dem er das Frühstück für meine Mutter vorbereitet hatte. Ein Spiegelei, genau so gebraten, wie sie es am liebsten mochte. Ein Toast mit ganz wenig Butter und ein Klecks von Clemences Himbeermarmelade. Er hatte ihr schon Kaffee mit Sahne aufs Zimmer gebracht und Mut gefasst, als sie sich im Bett aufgesetzt und einen Schluck davon getrunken hatte.
    Ich ging mit dem Tablett die Treppe hoch und stellte es auf einen der Stühle neben dem Bett. Sie hatte den Kaffee weggestellt und tat, als sei sie wieder eingeschlafen – das erkannte ich an der unmerklichen Anspannung ihres Körpers und den künstlich tiefen Atemzügen. Vielleicht wusste sie, dass Soren Bjerke wiedergekommen war, oder vielleicht hatte mein Vater schon irgendetwas über die Akte gesagt. Sie würde sich von mir verraten fühlen.
    Ich wusste nicht, ob sie mir je verzeihen würde, und wünschte, als ich den Raum verließ, ich könnte direkt zu Sonjas und Whiteys Tanke fahren, in der Gluthitze Benzin zapfen, Windschutzscheiben putzen oder das Klo saubermachen. Alles, nur nicht noch einmal in das Schlafzimmer gehen müssen. Mein Vater meinte, es sei wichtig, dass ich dabei war, damit sie es nicht abstreiten konnte.
    Wir werden ihre Abwehr durchbrechen müssen, hatte er gesagt, und mich packte eine elende Furcht.
    Zu dritt gingen wir die Treppe hoch. Mein Vater voran, dann Bjerke, ich als Letzter. Mein Vater klopfte an, bevor er das Zimmer betrat, und Bjerke starrte auf seine Füße und wartete mit mir vor der Tür. Mein Vater sagte etwas.
    Nein! Sie schrie auf, und ein Krachen war zu hören, das nur von dem Frühstückstablett kommen konnte, dann das Klappern von Besteck, das über den Boden rutschte. Mein Vater öffnete die Tür. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß.
    Besser, wir bringen es schnell hinter uns.
    Also gingen wir rein und setzten uns auf die Klappstühle, die er bereitgestellt hatte. Er ließ sich wie ein Hund, der weiß, dass er nicht willkommen ist, auf dem Fußende des Bettes nieder. Meine Mutter rückte so weit wie

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