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Das Haus des Windes

Das Haus des Windes

Titel: Das Haus des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Erdrich
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durcheinandergebracht hätte, wenn er sich vielleicht sogar in einem Akt der Selbstopferung vor die Räder des Cabrios geworfen hätte oder dem Präsidenten auf den Schoß gesprungen wäre, dass dann alles anders hätte kommen können. Dieser Gedanke nagte manchmal so sehr an ihm, dass er nachts wach lag und sich fragte, wie viele ihm unbekannte, ähnlich belanglose Unfälle und Zufälle in dem Augenblick passierten oder auch nicht passierten, um ihm seinen nächsten und wieder den nächsten Atemzug zu sichern. Es gab ihm das Gefühl, schwankend auf der Spitze eines Fahnenmastes zu stehen. In prekärer Balance auf den Umständen seines Lebens. Er sagte, das Gefühl sei seit dem Bombenanschlag auf die Botschaft, bei dem er verletzt worden war, noch stärker geworden.
    Interessant, sagte mein Vater. Dieser Priester. Ein Pfahlsitzer.
    Father Travis hatte anschließend beschrieben, wie die Motorradeskorte dem Cabriolet des Präsidenten vorausfuhr, und dann kam John F. Kennedy, den Blick gerade nach vorn gerichtet. EinigeFrauen, die auf dem Rasen saßen, hatten ihr Mittagessen mitgebracht, und jetzt standen sie auf, stellten sich neben ihre Brotboxen und jubelten und klatschten. Sie erregten die Aufmerksamkeit des Präsidenten, und er sah zu ihnen herüber und blickte dann Travis an, der geblendet und desorientiert war, als plötzlich das Porträt an der Wohnzimmerwand jeder anständigen katholischen Familie im Land vor seinen Augen zum Leben erwachte. Die Schüsse klangen wie Fehlzündungen. Die First Lady stand auf, und Travis sah, wie sie den Blick über die Menge schweifen ließ. Das Auto hielt. Weitere Schüsse folgten. Sie warf sich zu Boden, und das war das Letzte, was er sah, weil sich auch sein Vater auf ihn warf und ihn mit seinem Körper abschirmte. Er wurde so plötzlich zu Boden geschleudert, und sein Vater war so schwer, dass er in den Rasen biss. Jedes Mal, wenn er später an diesen Tag zurückdachte, erinnerte er sich an den Sand zwischen seinen Zähnen. Kurz darauf spürte sein Vater einen Umschwung in der Menschenmenge, und sie standen auf. Wellen der Verwirrung brandeten auf und nahmen chaotische Formen an, als das Auto des Präsidenten vorwärtsraste. Menschen rannten, von wirren Gerüchten getrieben, hin und her, unschlüssig, wo sie am sichersten waren. Er sah die Mitglieder einer schwarzen Familie, die sich, von Trauer überwältigt, zu Boden warfen. Der gesprenkelte Vorstehhund war wieder entwischt; er trottete mit hoch erhobener Schnauze mal nach links und mal nach rechts, als dirigierte er die Menge vor sich her, statt von immer neuen Menschenwogen in Angst und Hoffnung nach da und dort gedrängt zu werden. Manche sanken auf die Knie und gaben sich Gebeten oder ihrem Schrecken hin. Der Vorstehhund schnupperte an einer Frau, die gestürzt war, blieb neben ihr stehen und zeigte ernst und regungslos den ausgestopften Vogel auf ihrem Kopfputz an.
    An einem anderen Abend, als ich mich wieder um ein Gespräch bemüht und schließlich aufgegeben hatte, fiel meinem Vater ein, dass für einen Ojibwe die Clanzugehörigkeit alles bedeuteteund niemand ohne einen Clan aufwuchs, so dass jeder seinen Platz in der Welt und seine Beziehungen zu anderen Wesen kannte. Der Kranich, der Bär, der Eistaucher und der Wels, Luchs, Eisvogel, Karibu und die Bisamratte – all diese Tiere und dazu noch diejenigen von anderen Untergruppen des Stammes wie der Adler, der Marder, der Hirsch oder der Wolf – jeder Mensch war Teil dieser Clans und damit bestimmten Regeln zwischen seinen Mitmenschen und den Tieren unterworfen. Diese Ordnung, sagte mein Vater, sei genau genommen das erste Rechtssystem der Ojibwe. Die Clanstrukturen gaben Strafen und Belohnungen vor; sie regelten Eheschließungen und den Handel; sie legten fest, welches Tier jemand jagen durfte und welches er verschonen musste, welches Tier mit dem Doodem oder mit einem Mitglied des Clans Mitleid haben würde, welches Nachrichten überbrachte – an den Schöpfer, in die Geisterwelt, durch die Schichten der Erde in die Tiefe oder zu einem schlafenden Verwandten. Davon gibt es in unserer eigenen Familiengeschichte etliche Beispiele, wie du ja weißt, sagte er zu der Falte im Laken, die meine Mutter war. Deine eigene Großtante wurde von einer Schildkröte gerettet. Sie gehörte zum Mikinaak-Clan, zum Schildkröten-Clan, wie du weißt. Mit zehn Jahren wurde sie zum Fasten auf einer kleinen Insel ausgesetzt. Dort blieb sie im beginnenden Frühjahr vier Tage und

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