0195 - Im Schloß der Bestien
Grünlich schimmernde Augen sahen den uralten Mann mit dem weißen Bart wachsam an. Weiß war auch die Kutte, mit goldener Schnur gegürtet, die der Alte trug, aber jung lachten seine Augen. Merlin, geheimnisumwobenster Zauberer, der jemals auf der Erde gewandelt war, hob die Hand.
»Lange genug hast du auf der faulen Haut gelegen«, murmelte er mit stillem Vergnügen. »Doch mich dünkt, deine Schulung sei inzwischen ausreichend, um etwas für die täglichen Rationen zu tun, die du hier erhältst.«
Ein leises Schniefen war zu hören.
»Ja, schniefe nur«, sagte der große Magier. »Es gibt ein Problem, das mit deiner Hilfe möglicherweise schneller gelöst werden kann, und es gibt ein Wiedersehen mit alten Freunden.«
Leicht verdunkelten sich die grünlichen. Augen. Außerhalb der Burg? Fort von Teri und Ansu, fort von dir, Merlin? Weitab der Sicherheit Caermardhins?
Merlin fing die konzentrierten Gedanken auf und war zufrieden. Die Schulung hatte Früchte getragen. Die Ausbildung des Telepathen war fast vollkommen.
»Nicht allzuweit fort. In diesem Land, auf dieser großen Insel«, beruhigte er.
Wann?
»Jetzt«, sagte Merlin.
Abschied nehmen! Wo sind Teri und Ansu?
»Du weißt doch, daß sie sich außerhalb Caermardhins aufhalten. Vielleicht kehren sie in den paar Tagen von ihren Aufträgen heim – wie du! Doch nun ist es an der Zeit zu gehen. Freue dich auf alte Freunde in einem schönen Schloß.«
Merlin verstummte. Seine Kraft schuf eine Brücke, für die Abschirmungen weißer Magie kein Hindernis waren, denn diese Kräfte waren artverwandt. Der Telepath verschwand aus Caermardhin und erschien in einem anderen Schloß wieder.
Dann gab es die Brücke, die Verbindung zu Caermardhin, nicht mehr, aber der Telepath fühlte sich dennoch nicht einsam. Tausenderlei verschiedene neue Gerüche strömten auf ihn ein, aber auch besonders bekannte.
Er war bei Freunden.
***
Professor Zamorra sah auf die Uhr. Die leuchtenden Digitalziffern verrieten ihm, daß es bereits nach Mitternacht war. Für ihn keine ungewöhnliche Zeit, aber da es ihm am kommenden Tag versagt bleiben würde, bis in die Mittagsstunden zu schlafen, wie es seine Angewohnheit war, war es vielleicht doch an der Zeit, sich ins Bett zu begeben. Nicole war ein wenig schlauer gewesen und schlief wahrscheinlich schon.
Bedauernd lehnte Zamorra sich in seinem Schreibtischsessel zurück. Wenn sie zu unterschiedlichen Zeiten schlafen gingen, bedeutete das, daß sie allein schliefen. Nicole Duval, Zamorras Sekretärin und geliebte Lebensgefährtin in Personalunion, besaß seit alters her ihre eigene Zimmerflucht, in der sie auch zuweilen allein nächtigte, wenn ihr oder Zamorra oder beiden der Sinn nach Zweisamkeit abhandengekommen war. Dies schien so eine Nacht zu werden.
Zamorra, der nicht wie ein Hochschuldozent, sondern eher wie ein aktiver Sportler aussah, griff noch einmal nach dem letzten Papierbogen, den er bearbeitet hatte. Er pflegte die Quintessenz seiner »Fälle« schriftlich festzuhalten, entweder, um eine wissenschaftliche Abhandlung über okkulte Phänomene daraus zu machen oder sie schlicht und einfach als reine Fakten seiner EDV-Anlage im unteren Teil des Schlosses einzugeben.
Zamorra war Parapsychologe und Geisterjäger. Und sein letzter Ausflug in die Sphären des Grauens lag erst ein paar Tage zurück. Zur Ruhe kam er dennoch nicht. Eine Einladung war eingetroffen. England wartete auf ihn. Zwei Gastvorlesungen in Oxford, Unterbringung in einer Burg in der Nähe! Offenbar hatte man ihm damit eine besondere Ehre antun wollen, ihn nicht im Hotel, sondern bei einer Adelsfamilie auf dem Land unterzubringen.
»Meine Güte«, murmelte er. »Wird das ein Streß! Kurzfristiger ging’s auch nicht mehr …«
Seine Hand fand das Weinglas, und er leerte es endgültig und stellte es auf die Schreibtischplatte zurück. Raffael würde es noch finden und abräumen. Wann zum Teufel schlief der alte Diener eigentlich? Zu jeder Tages- und Nachtstunde war er ständig dienstbereit, und seine Zuverlässigkeit war sprichwörtlich.
»Lykows Schloß«, murmelte Zamorra. »Britisch klingt das aber ganz und gar nicht … sollte da ein russischer Fehltritt in der Familie sein?« Mit dieser Überlegung erhob er sich, um endgültig Feierabend zu bekommen, schritt durch die Tür und löschte das Licht im Arbeitszimmer mit kurzem Händeklatschen.
Vielleicht war es sinnvoll, noch einmal nach Nicole zu sehen. Wenn sie möglicherweise noch wach war –
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