Das Haus in Georgetown
Homosexualität für eine Sünde. Ich konnte nicht glauben, dass ich ...“
„... schwul bin“, schnauzte sie, um nicht weinerlich zu klingen. „Das Wort ist ,schwul‘. Man kann das sogar noch drastischer ausdrücken. Mit Formulierungen, die Alex in der Schule zu hören bekommen hat, als die Geschichte die Runde machte. Oder mit Worten, die Remy immer benutzt, wenn sie sich die Seele aus dem Leib heult.“
Er zuckte zusammen. „Ich wollte ihnen nie wehtun.“
Noch vor dem Enthüllungsbericht in der Zeitung war die Infrastruktur der Familie unwiderruflich kollabiert. Aber erst jetzt stellte sie ihm die eine Frage, die sie seitdem umtrieb.
„Aber warum hast du dich dann nicht weiter verstellt, David?“ Sie konnte nicht länger verhindern, dass ihr Tränen in die Augen schossen. „Wenn ich dich nicht mit Ham entdeckt hätte, hättest du dann weitergemacht? Wenn ich damals nicht zum Cottage gefahren und der Reporter euch nicht gefolgt wäre, hättest du es mir dann jemals erzählt? Oder hätten wir dann noch immer alles, was wir verloren haben?“
„Würdest du das wollen? Jetzt, wo du die Wahrheit kennst?“
Sie konnte nichts erwidern, weil sie keine Antwort wusste.
„Ich war entschlossen, es dir mitzuteilen. Sobald ich den richtigen Weg gefunden hätte.“ Ein missglücktes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich war noch nicht über den Eröffnungssatz hinausgekommen. Es wäre die schwierigste Rede meines Lebens geworden.“
„Ein Bild hat mehr gesagt als tausend Worte.“
Er griff in seinen Anzug und zog ein Taschentuch hervor. Er hatte stets ein frisch gebügeltes Taschentuch dabei. Vor langer Zeit einmal, da hatte sie dafür gesorgt. David bot es ihr an, aber sie schüttelte den Kopf.
Er steckte es zurück, und es hing schief aus der Tasche, wie die Notflagge eines sinkenden Schiffs. „Ich gehe jetzt, aber du weißt, wo du mich erreichen kannst. Ich werde da sein, wenn du mich brauchst.“
„Kannst du mir helfen, mein Leben wieder zusammenzusetzen?“
„Ich kann dir meine Freundschaft anbieten.“
Darauf fiel ihr keine freundlich klingende Erwiderung ein. Sie wandte sich von ihm ab, zur Straße. „Kümmere dich um deine Kinder, David. Das dürfte dich schon voll und ganz auslasten.“
2. KAPITEL
Eine Frau, die an Albträumen leidet, zieht es vor, nicht zu schlafen, aber jahrelange Schlaflosigkeit fordert ihren Tribut. Seit fast vierzig Jahren fürchtete sich Lydia Huston davor, die Augen zu schließen.
Die alles durchdringende Müdigkeit hatte vor den Wechseljahren eingesetzt, doch ihre Lebenslust war Lydia schon lange vorher abhanden gekommen. Sie aß nur, wenn sie musste, und selbst einfachste Aufgaben traute sie sich nicht mehr zu. In den letzten Monaten hatte sie mit ansehen müssen, wie ihr blonder Bubikopf dünner und ihre sorgsam gepflegte Haut faltig und runzlig geworden war.
In ihrem Albtraum blieb sie natürlich jung. Aber sie war nicht die goldmähnige Debütantin, die sich stolz an den Arm ihres Vaters, des Botschafters, lehnte, nicht die eifrige Braut, die sich an den Arm ihres Mannes, des Kongressabgeordneten, schmiegte, sondern eine junge Mutter, verängstigt und allein, der kein Arm der Welt je wieder den nötigen Halt geben konnte.
In diesem Traum lag das Haus um sie herum im Dunkeln. Trotz der kleinen Zimmer und des schmalen Korridors fand sie ihren Weg nicht. Sie tastete sich an Wänden entlang, stolperte über Teppiche, fiel auf die Knie und verlor dabei endgültig die Orientierung.
Musik ertönte, sie hallte von den Wänden wider und stieg zum Dachboden empor. Arpeggio-Akkorde bauten sich auf und brachen zusammen wie die Wellen einer sturmgepeitschten See. Alle paar Augenblicke blieb Lydia stehen, da sie nicht recht wusste, wo oben und wo unten war, und wagte dann wieder einen Schritt.
Sie stolperte über die unterste Treppenstufe und griff nach demGeländer, um nicht zu stürzen. Sie setzte einen Fuß auf die Treppe, richtete sich auf und zog den anderen Fuß nach. Ihr wurde erneut schwindelig, und sie griff ins Leere.
Die Musik schwoll an, bis sie in den Ohren schmerzte. Lydia versuchte sie auszublenden und aus der Dunkelheit ein Wimmern, ein Murmeln herauszuhorchen, aber jetzt erklangen Tonleitern, die erst auf-, dann abstiegen, Oktave um Oktave.
Mit Mühe gelang ihr der dritte Schritt. Beim vierten verschwand plötzlich das Geländer, sodass sie beinahe hinfiel. Das Geländer hätte da sein müssen – es war immer dort gewesen. Nicht so an diesem
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