Das Haus Zeor
schien ein Gebirgskamm, der parallel zu ihrem Weg verlief, lange Finger nach ihnen auszustrecken, wie eine riesige Klaue, die die Erde packte. Die Täler zwischen den Bergrücken wirkten wie felsige, abweisende Rinnen. Hier und dort konnte man ein Überbleibsel uralter Bauweise sehen. Aber zum größten Teil gab es nichts als kahlen, rissigen Fels, der allein von Nebenschleiern aufgeweicht wurde.
Rechts von ihnen wurde das ordentliche Flickwerk von Farmland gelegentlich von quer verlaufenden Landwirtschaftswegen durchzogen. Es war ein Morgen, an dem man es genoß, lebendig und frei zu sein, ein Morgen, der die glücklichsten Erinnerungen der Kindheit und die wildesten Streiche der Jugend heraufbeschwor.
Trotz seiner heiteren Gelassenheit und der Fülle des Gefühls heimzukehren, blieb sich Valleroy brennend dessen bewußt, wie sich dieser Morgen für Aisha präsentieren mußte – wenn sie noch lebte. Gefangen. Sie war nicht der Typ, der sich vor der Bedrohung, sterben zu müssen, zusammenkauerte. Aber selbst für ihren Mut gab es Grenzen.
Mut? Ja, dachte Valleroy, er hatte sie um diesen aufwendigen Mut immer bewundert, von dem ihr nicht bewußt zu sein schien, daß sie ihn hatte. Er erinnerte sich daran, wie er ihn das erste Mal in Aktion erlebt hatte.
Es war ein Tag ganz so wie dieser gewesen – sonnig, mild und fast zu schön. Sie waren damals kaum mehr als Kinder gewesen, die sich für einen Tag allein davonschlichen, um ein paar der gewaltigen Ruinen der Alten zu erkunden. An diesem Tag, erinnerte sich Valleroy, hatten sie das erste Mal über Simes diskutiert.
Die Ruinen waren nichts weiter als ein riesiger, brütender Haufen Schutt mit einem gelegentlich aufragenden Skelett, das sich weigerte einzustürzen. Aber zu dieser Atmosphäre des unberührten Verfalls alternder Würde kam der quälende Schrecken des Sime-Berserkers hinzu.
Hierher, in diesen grotesken, trügerischen, von Höhlen durchzogenen Dschungel, kamen die Opfer des Wechsels, um während ihrer wenigen verwundbaren Stunden dem Getötetwerden zu entgehen. Nicht viele von ihnen überlebten, aber jene, die es schafften, hatten Legenden des Schreckens geschaffen, die wie ein sichtbares Leichentuch an den bizarren Blöcken künstlichen Gesteins klebten.
Valleroy mochte diesen Ort, weil ihn die anderen Leute mieden. Er war wie sein eigenes, privates Eigentum – eine einzigartige Empfindung für ihn. Er wußte, daß er allein den Schlüssel zum sicheren Eindringen besaß – das Sternenkreuz. Mehrere Stunden lang hatten er und Aisha in den Ausläufern des verbotenen Gebietes herumgeschnüffelt. Stück um Stück streiften sie tiefer in das zerklüftete Gelände hinein. Aus einem Impuls heraus lud er sie ein, mitzukommen und den geheimen Tempel zu sehen, den er seinem eigenen Geist errichtet hatte … sein geheimes Versteck.
Sie kletterten über zerbröckelndes Gestein, überhäuft mit zottigen Ranken, Grasbüscheln und gelegentlich auch mit Gestrüpp. Kurz zuvor hatte es geregnet, was frische Pfützen und neu eingeschnittene Rinnen hinterlassen hatte, die ihm die sonst benutzten Wege versperrten. Er wählte seinen Fußhalt mit prahlerischer Leichtigkeit und war sich eindringlich des Eindrucks bewußt, den er auf sie machte.
Sie folgte, wobei sie nach jedem winzigen Geräusch davonhuschender Nagetiere oder fliehender Vögel verstohlene Blicke abschoß. Er suchte ein paar Meter vor ihr, in Kopfhöhe, einen Pfad aufwärts. Er bewegte sich mit dem ganzen zuversichtlichen Stolz eines Eigentümers in seinem Privatgarten. Deshalb war sie es, die die Leiche entdeckte.
Ihr ersticktes Keuchen brachte ihn in drei hüpfenden Sprüngen zu ihr zurück. Seitlich ihres Weges und unterhalb von ihnen füllte ein großer Regenwassersee eine Vertiefung aus, in der Baumaterial abgetragen worden war. Das Wasser stand spiegelglatt unter dem klaren, blauen Himmel. Nahe der Mitte des Sees schwamm ein Körper mit dem Gesicht nach unten, die Arme ausgestreckt, wie um nach etwas gerade außer Reichweite zu greifen.
Selbst von dort, wo sie standen, konnten sie die aufgewölbten Erhebungen sehen, die sich gerade erst entlang der Unterarme entwickelt hatten. Sie wußten, daß sie die mit Flüssigkeit gefüllten Tentakel-Scheiden sahen, bis zu der schmerzhaften Anspannung gestrafft, die dem Durchbruch der Tentakel vorausging. Diese Beinahe-Sime war gestorben, unmittelbar bevor der Wechsel vollendet gewesen war, unmittelbar bevor die Öffnungen am Handgelenk aufgebrochen
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