Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
rang nach Luft, als sie dies sagte, als ihre Fantasien aus der Abgeschiedenheit ihrer privaten Gedankenwelt in die Realität des gesprochenen Wortes überwechselten.
»Aber das ist unmöglich«, sagte ich mit einem Kopfschütteln. »Du wärst dort ganz allein. Du kennst doch niemanden in St. Petersburg.«
»Anfangs, mag sein«, räumte sie lachend ein, wobei sie sich eine Hand auf den Mund legte, um ihre Freude im Zaume zu halten. »Aber es wird nicht lange dauern, bis ich einen reichen Mann kennenlerne. Einen Prinzen vielleicht. Und er wird sich in mich verlieben, und wir werden gemeinsam in einem Palast leben, und ich werde all die Dienstboten bekommen, die ich haben möchte, und Kleiderschränke voll herrlicher Gewänder. Ich werde jeden Tag andere Juwelen tragen – Opale, Saphire, Rubine, Diamanten –, und während der Ballsaison werden wir im Thronsaal des Winterpalais tanzen, und alle werden sie mich von morgens bis abends anschauen und mich bewundern und sich wünschen, sie wären an meiner Stelle.«
Ich starrte sie an, dieses nicht wiederzuerkennende Mädchen mit ihren fantastischen Plänen. War dies die Schwester, die jede Nacht neben mir auf dem Fußboden aus Moos und Kieferngrün schlief und auf deren Wangen jeden Morgen beim Aufwachen die Abdrücke der körnigen Zweige prangten? Ich verstand kaum ein Wort von dem, was sie sagte. Prinzen, Dienstboten, Juwelen? Derlei Vorstellungen waren meinem noch jungen Geist vollkommen fremd. Und das Gleiche galt für die Liebe. Was war das überhaupt? Was hatte das alles mit uns zu tun? Natürlich nahm sie meinen verständnislosen Blick wahr und brach in Gelächter aus, während sie mir das Haar zerzauste.
»Ach, Georgi«, sagte sie und küsste mich erst auf beide Wangen und dann noch einmal auf die Lippen, ein kleines Ritual, das Glück bringen sollte. »Du hast nichts von dem verstanden, was ich gesagt habe, stimmt’s?«
»Nein«, behauptete ich schnell, denn mir missfiel die Vorstellung, sie könnte mich für dumm halten. »Natürlich habe ich alles verstanden.«
»Du hast also schon mal vom Winterpalais gehört?«
Ich zögerte. Ich wollte Ja sagen, befürchtete aber, dass sie mir dann nichts darüber erzählen würde, und dieses Wort, Winterpalais, übte bereits eine magische Faszination auf mich aus. »Ja, ich denke schon«, sagte ich schließlich. »Aber ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Komm, hilf mir auf die Sprünge, Asja.«
»Das Winterpalais ist der Wohnsitz des Zaren«, erklärte sie mir. »Da lebt er, zusammen mit der Zarin natürlich und der kaiserlichen Familie. Du weißt, wer das ist?«
»Ja, weiß ich«, sagte ich schnell, denn der Name Seiner Majestät und der seiner Familie wurde bei uns vor jeder Mahlzeit beschworen, wenn wir ein Gebet sprachen, um für ihn Gesundheit, Großmut und Weisheit zu erflehen. Mitunter dauerten diese Gebete länger als das sich daran anschließende Essen. »Ich bin doch nicht blöd.«
»Nun, dann dürftest du ja wissen, wo der Zar seinen Wohnsitz hat. Oder zumindest einen seiner Wohnsitze. Er hat nämlich mehrere. Zarskoje Selo. Livadia. Und nicht zu vergessen: seine Jacht, die Standart .«
Ich zog eine Augenbraue hoch, und jetzt war ich an der Reihe, zu lachen. Die Vorstellung, jemand könne mehr als einen Wohnsitz haben, schien mir grotesk. Wozu sollte das gut sein? Natürlich war mir klar, dass Zar Nikolaus von Gott persönlich in seine glorreiche Position berufen worden war, dass seine Macht und seine Selbstherrschaft unumschränkt und absolut waren, doch besaß er auch magische Fähigkeiten? Konnte er gleichzeitig an mehreren Orten sein? Der Gedanke war absurd, aber irgendwie auch plausibel. Er war schließlich der Zar. Er konnte alles sein. Er konnte alles tun. Er war ebenso sehr ein Gott wie Gott selber.
»Wirst du mich mitnehmen nach St. Petersburg?«, fragte ich sie ein paar Augenblicke später, wobei meine Stimme sich fast zu einem Flüstern senkte, so als befürchtete ich, sie könnte mir diese äußerste Ehre versagen. »Wenn du fortgehst, Asja. Du wirst mich hier nicht zurücklassen, oder?«
»Ich könnte es versuchen«, sagte sie großherzig und ließ sich die Sache durch den Kopf gehen. »Oder du könntest vielleicht kommen und mich und den Prinzen besuchen, sobald wir unser neues Heim bezogen haben. Du könntest einen Flügel unseres Palastes ganz für dich allein haben, und eine Riege von Bediensteten, die sich um dein persönliches Wohlergehen kümmern. Der Prinz und ich werden
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