Das Haus
im Haus meiner Großmutter, in der wir vorher gewohnt hatten, war dagegen geradezu winzig und sehr verwinkelt gewesen. Dort waren die Wände und die Türen nah, man sah nie weiter als vielleicht drei oder vier Meter, und überall waren Gegenstände, Einrichtungen, Tische, Kommoden, Spiegel, Stühle, Teppiche, Vasen, Blumen et cetera . Die Urgroßmutter lebte in einem noch älteren Haus als meine Großmutter. Sie hatte eine Wohnung im zweiten Stock, zu der sie mich stets hochtrug. Ich hielt mich dort meist in der Küche auf, dort war alles voller Schüsseln, alter Kannen, Einmachgläser, Dosen, Vitrinen, in der Mitte des Raumes ein großer Tisch, teils stammte die Einrichtung noch von den Eltern der Urgroßmutter aus den zwanziger Jahren. Das war die andere Welt, eine Welt voller Gerüche, Geräusche, knarrender Holzstufen, ob sie damals noch Sauerkraut im Keller hatte, weiß ich nicht – ich habe an meine Urgroßmutter keinerlei lebendige Erinnerung mehr und kenne sie nur noch von Fotos und Erzählungen. Auch die knarrenden Holzstufen kenne ich nur von später. Und doch habe ich sie in meinen ersten Lebensjahren täglich gehört. Immerhin habe ich von der Küche der Urgroßmutter noch ein ganz fernes Bild im Kopf, genauer gesagt vom großen Küchentisch, aber vielleicht auch nur, weil meine Schwester später regelmäßig erzählte, wie sie sich dort unter dem Tisch versteckt habe, wenn sich die Urgroßmutter ankleidete, und wie sie von da die alten, großen Brüste der Urgroßmutter angeschaut habe. Offenbar hat sie das öfter getan.
Wie jede frühe Kindheit, so wird auch meine in der Familie in einer Ansammlung ganz verschiedener Geschichten und Anekdoten erzählt, von denen ich nicht weiß, inwieweit sie zutreffen oder ob sie überhaupt irgendwie zutreffen, auch wenn ich imZentrum dieser Erzählungen stehe, als das Kind Andreas bzw. der Andi , wie sie mich nannten. Dieser Andi sei in den ersten Tagen ein unkompliziertes Kind gewesen. Schon die Geburt sei ganz leicht gewesen. Mein Vater war wie immer mit seinem Dienstwagen nach Frankfurt gefahren, die Wehen setzten am Morgen ein, und daraufhin folgt immer die Anekdote mit dem Milchmann, der meine Mutter in die Geburtsklinik fährt. Er stellt gerade die Milchflasche vor die Tür, da fragt ihn meine Mutter, ob er sie nicht in die Klinik fahren könne. Andernfalls hätte sie vielleicht ein Taxi genommen oder meinen Onkel J. angerufen. Ob schon eine Tasche mit den notwendigen Sachen für den Aufenthalt in der Klinik bereitstand, wird nicht erzählt, es ist aber wahrscheinlich. Es war nämlich die dritte Niederkunft, so wird alles bereits mit einer gewissen Routine vonstatten gegangen sein. Die Familie wohnte damals in einer Wohnung in Nieder-Mörlen, einem Stadtteil von Bad Nauheim, und bestand aus vier Personen, meinen Eltern und meinen zwei Geschwistern. Meine Mutter lebte dort einige Jahre als Hausfrau, hauptsächlich beschäftigt mit den Kindern und dem Haushalt, und möglicherweise verströmte sie nach außen Glück und Zufriedenheit und auch Stolz auf die Ehe, den Gatten, die eigene Wohnung, die Kinder und überhaupt auf das Gesamtbild, das sie mit alldem vor sich und der Umwelt abgab, es muß alles in gewisser Weise die Erfüllung eines vorgestellten Lebensplans gewesen sein, und ich vermute, damals, im Schwung der ersten Ehejahre, war das, was sie als ihr Glück bezeichnet haben mag, noch halbwegs ungebrochen. In der ersten Zeit wird sie ihre Wünsche noch für ganz wirklich gehalten haben. Die Kinder waren klein, man konnte sich um sie kümmern, sie waren augenscheinlich noch keine Personen, und der Haushalt um sie herum war ganz auf die Kinder und die häusliche Versorgung des Mannes abgestimmt, der wiederum den ganzen Haushalt finanziell ermöglichte. Ich stelle mir diese ersten Jahre zwar nicht als Idyll vor, aber als Jahre einer gewissen glücklichen Überraschtheit, als könne alles tatsächlich so sein, wie man es verabredet hat, und als sei das durch die Ehe verheißene Glück tatsächlich möglich. Ich kann daraus allerdings kein lebendiges Bild zeichnen, ich müßte denn meine Mutter ins Auto setzen auf dem Weg in die Stadt zum Friseur oder zur Konditorei, wo sie die Königinpasteten für den Heiligen Abend abholt (vorbestellt), ich müßte sie an den Herd stellen oder auf die Couch setzen, wo sie einem ihrer Kinder die Brust gibt, ich müßte sie an die Mangelmaschine setzen, wo sie Handtücher mangelt, ich müßte sie in die Kirche setzen oder
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