Das Haus
konnte so bleiben, vielleicht in Ewigkeit. Ganz langsam streunte ich durch die Räume. Ich ging ins Wohnzimmer, ins Eßzimmer, in die Küche … aber warumich da jeweils hinging, hätte ich nicht sagen können. Das Wohnzimmer war eigentlich eine Raumflucht aus zwei Zimmern, spärlich eigerichtet, die Decke wie im ganzen Haus nicht sonderlich hoch. Ein großer Wandschrank mit Türen und Regalen, in denen die privaten Bücher meines Vaters standen, die ich mir oft anschaute. Gründungsgeschichten der BRD. Bücher über die Sowjetunion, Moskau, Lenin. Die Autobiographie Konrad Adenauers. Geschichte des Nationalsozialismus. Die großen Opern der Welt. Oder ich blätterte die Langspielplatten meiner Mutter durch, die ebenfalls dort standen. Vivaldi, Iwan Rebroff, Chaconne. Dazwischen auch einige Platten des Vaters, La Montanara, das Lied der Berge, Lieder »Aus der Stundentenzeit«. In jedem der beiden Räume stand wie verloren eine Sitzgruppe, eine in der Mitte, eine am Rand. Im größeren Raum der Fernseher. Dann nur noch eine Stehlampe mit einem großen Schirm. Vom Eßzimmer konnte man in den Garten schauen. Erinnere ich mich heute daran, wie ich dort am Fenster stand, allein, wenn ich nicht in die Schule ging, denke ich immer, es ist ein gleichbleibend bedeckter, nicht sonniger Tag, grau und eher kühl. Hinter dem Garten der Schrebergarten Herrn Rubins. Ganz klein war Herr Rubin zu sehen, wie er dort arbeitete. Frührentner. Sonst saß immer die ganze Familie mit Großmutter und Onkel im Eßzimmer, nun war alles leer und lautlos, jeder Stuhl akkurat unter den Tisch geschoben, auf dem Tisch ein Tischdeckchen und darauf eine Blumenvase, möglicherweise mit einer künstlichen Blume, aber vielleicht kamen die auch erst ein paar Jahre später, oder mit Rosen aus dem Garten, die immer sehr stark dufteten. Jede Sekunde und jede Minute und jede Stunde hätte so sein können, dann wäre alles gut gewesen. Eine unbewegte Welt. Vielleicht, wäre es immer so weitergegangen und wäre nie wieder jemand in das Haus zurückgekommen, hätte ich auch verhungern können im Haus, und es wäre mir trotzdem irgendwie richtig und als ein mir zugehöriger Teil meines eigentlichen Lebens vorgekommen. Vielleicht hätte ich beim Verhungern nicht einmal Hunger gespürt, sondern hätte nur in den Räumen dagestanden und später gelegen und wäre schließlich einfach gestorben, und der Tod hätte sich dann von dem Leben vorher gar nicht weiter unterschieden, und ich hätte es eigentlich auch gar nicht gemerkt.
Aber nach einiger Zeit legt sich der Zustand der Lähmung dann doch, und ich laufe in die Küche und gehe zum Kühlschrank, hole Butter und Käsescheiben heraus und mache mir ein Käsebrot, das ich im Stehen esse, am Küchenfenster oder vor dem Fernseher oder an der Terrassentür, mit Blick auf die Usa. Genau so ein Käsebrot, wie ich es abends nie essen konnte. Möglich, daß am Vortag unsereNähfrau dagewesen ist und die Nähmaschine noch ausgepackt oben im Balkonzimmer steht, dann gehe ich hoch und schaue mir die Maschine an, drehe am Kurbelrad und verfolge, wie sich die Nadel hebt und senkt. Oder ich gehe ins Zimmer meines Bruders und höre mir eine LP-Seite an, mit Shine on you crazy diamond oder Echoes. Oder im Wohnzimmer Mein Rußland du bist schön . Und die Musik vermischt sich mit meinem Zustand und dem Haus und allen seinen Räumen und der Wetterau vor den Fenstern, aus denen ich schaue. Mit den Bäumen, mit der Usa, dem Himmel, und in der Ferne auch mit Herrn Rubin, der lautlos da draußen vor sich hin arbeitet.
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