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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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Kloß, der immer größer wurde, und immer öfter blieb ich liegen und erzählte von dem Kloß, worauf eine Weile Ärzte kamen, mich untersuchten und anschließend vor der Zimmertür Gespräche mit der Mutter führten. Manchmal bekam ich auch Fieber, dann hatte die Entschuldigung, die an die Schule geschrieben werden mußte, eine handfestere Begründung. Sie konnten ja nicht schreiben Er kann einfach nicht . Obwohl es die Wahrheit gewesen wäre. Und daß ich nicht konnte, fiel natürlich auch auf die Familie zurück. Was ist das für eine Familie, die ein solches Kind hat, daß es nicht einmal regelmäßig in die Schule geht? Meine gesamte Grundschulzeit über kam ich auf große Fehlzeiten, in einem Halbjahr fehlte ich manchmal bis zu fünfzig Tage. Wenn ich daheim blieb, konnte ich mir das Frühstück ersparen und das grelle Licht dort unten mit der Familie und konnte den Morgen, allein mit meinem riesigen Hals, der das ganze Zimmer ausfüllte, im Halblicht bei geschlossenen Vorhängen vor mich hin dämmern und die Zeit rückwärts zählen. Nun sind es schon dreißig Minuten nach dem Schulgong, nun ist bereits die erste Stunde vorbei, nun ist es schon zehn Uhr, und du mußt schon seit zwei Stunden nicht in der Schule sein, sondern darfst hier liegenbleiben, und meistens war ich gegen elf Uhr dann wieder kerngesund, und der Kloß hatte sich auf ein erträgliches Maß reduziert, bis er anschließend ganz vergessen war. Natürlich machte es meine Eltern zusehends ratlos, wie oft ich krank war bzw. fehlte, aber vielleicht hatten sie ja auch mit meiner Klassenlehrerin die geheime Absprache getroffen, mir das, was vom Gesetz her vorgeschrieben war, also den Gang in die Schule, so häufig es geht zu ersparen. Natürlich reagierte mein Vaterimmer mit einem gewissen Mißmut, wenn er hörte, der Andreas gehe wieder nicht zur Schule, denn er begriff einfach nicht, warum ich nicht in die Schule ging, er begriff meine Widerstände nicht, und vor allem begriff er meine Furcht vor den Menschen und meine komplette Überforderung durch sie nicht. Er begriff sie nicht nur nicht, sondern ich glaube, er verabscheute etwas daran. Möglicherweise sah er darin eine Schwäche, die ihm zuwider war. Möglicherweise glaubte er, ich nähme mir ein Recht heraus, das, wenn es sich alle herausnähmen, zum sofortigen Zusammenbruch der zivilisierten Welt führen würde (alle würden dann ab sofort jeden Tag morgens einfach zu Hause bleiben, wie ich). Vielleicht war ich für ihn so etwas wie ein Morphinist mit anderen Mitteln. Zumindest glaube ich das im nachhinein. Kurz, möglicherweise sah er in meinem Verhalten so etwas wie Fahnenflucht, Fahnenflucht vor dem Leben, und das konnte er natürlich nicht gutheißen, auch wenn er es sich selbst vielleicht gar nicht zugab. In mir lag etwas, das alles, was mein Vater tat, unmöglich gemacht hätte, seine politische Arbeit in der Kommune, seine Betriebsrats- und Aufsichtsratssitzungen, seine Gremien hier und Gremien dort, seine Verhandlungen nach allen Seiten, seine gesamte Geschäftswelt, alles das wäre sofort unmöglich geworden, hätte er das zugelassen, was ich machte, nämlich die einfache, schlichte Verweigerung. Die Verweigerung in Form einer mitunter hausgroßen Kehle, groß wie das Haus im Mühlweg. Er glaubte mir die Kehle nicht, vermute ich. Und sie war doch da, und ich weiß sie bis heute. Jetzt, lange nach der Einschulung, war die morgendliche Schauspielerei längst Routine geworden. Sie nahmen mich hin als jemanden, der zu einem normalen Geschäftsgang nicht fähig war, aber sie zeigten es nicht bzw. versuchten, es nicht zu zeigen. Mein Vater blieb immer freundlich, fragte nach gestern, fragte, was heute bevorstehe, freilich fragte er es immer hinter der Zeitung, und ich betrachtete ihn dabei, wie er seinen Toast oder Zwieback oder sein Leberwurstbrot zum Mund führte und hineinbiß und dann kaute, in einer so problemlosen, aber in ihrer Problemlosigkeit doch irgendwie aufgesetzt wirkenden Weise. Ich versuchte, es nicht so aussehen zu lassen, als ob ich ihn dabei beobachtete. Umgekehrt machte er es genauso, er betrachtete mich dabei, wie ich mit schlaffen Händen und schlaffen, hängenden Schultern meine Tasse mit Milch nahm und eigentlich fast gegen meinen Willen, und nur weil es alle von mir erwarteten, zum Mund führte, um daran zu nippen, und ihn muß das alles innerlich stets aufgeregt haben, es ließ ihn an mir, seinem Sohn, verzweifeln, aber natürlich versuchte er ebenfalls, mich

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