Das Haus
oder Vater, wieder in das Zimmer, ob ich denn aufgestanden sei. Der Zeitplan ist genau einzuhalten. Zuerst muß ich mich waschen, dann muß gemeinsam gefrühstückt werden, anschließend muß ich in den Henninger-Dienstwagen einsteigen, dann wird man mich den Burgberg hinauf zu der von unseremHaus im Mühlweg bzw. dem alten Firmengelände etwa einen Kilometer entfernten Schule bringen und mich vor dem Schulhoftor am oberen Pausenhof abliefern. Noch achtundfünfzig Minuten, dreitausendvierhundertachtzig Sekunden bis zum Gong. Ich stehe in meinem Zimmer und höre durch die geöffnete Tür Geräusche aus dem Badezimmer, möglicherweise den Rasierer des Vaters, möglicherweise den Fön der Mutter. Bei den Tätigkeiten, die nun vor mir liegen, bin ich auf mich selbst gestellt und kann somit erst einmal eine Weile für mich sein. Ich weiß, die nächsten zehn oder fünfzehn Minuten kannst du noch allein bleiben, anders wird es erst, wenn du nachher die Treppe hinabsteigen und die Küche betreten wirst. Aber noch ist es nicht soweit, noch stehe ich in meinem Zimmer und sehe die Wäsche vor mir fein säuberlich auf einem Stuhl zusammengelegt. Es ist die Wäsche, die meine Mutter gestern abend aus dem Schrank herausgeholt hat, damit ich sie heute anziehe. Daneben, auf einem anderen Stuhl, liegt das, was ich gestern getragen habe. Die neue Wäsche liegt fremd und korrekt da, irgendwie so, als liege da mein von den Eltern erwünschtes Ich. Daneben die getragene Wäsche, die Hose, an die ich mich gestern den Tag über gewöhnt hatte, das Hemd, an das ich mich ebenfalls gewöhnt hatte und dem man noch meine eigene Form ansieht, wie es unordentlich daliegt. In der gestrigen Wäsche ist noch der gestrigeTag, der Nachmittag und der Abend, die Kleidung hat all das erlebt und mit mir geteilt und liegt da wie eine Erinnerung an Stunden, die ich zurückwünsche, kaum daß sie mir einfallen. Gestern am Nachmittag, gestern abend mußte ich nicht in der Schule unter meinen Mitschülern sein, ich saß vielleicht nur im Bastelraum und war glücklich. Saß da in den Öldämpfen und war glücklich über meine Finger und die Plastik- oder Papiereinzelteile und über den Plan, nach dem ich alles zusammenfügte, eine in sich geschlossene, mit der Welt nicht weiter verbundene Aufgabe. Vielleicht hatte ich am vorigen Abend ein Haus für die Eisenbahn meines Bruders gebaut. Oder ich hatte meinem Bruder mit irgend etwas anderem bei der Eisenbahn geholfen. Oder ich war am Nachmittag mit meinem Fahrrad unterwegs gewesen. All das ist noch in der Kleidung und schaut mich freundlich an. Es ist, als riefe sie mich, und ich blicke zwischen der neuen, korrekten und der alten, bereits getragenen Wäsche hin und her, und ganz automatisch ziehe ich die Kleidung von gestern wieder an und fühle mich sofort ein Stück wohler und irgendwie beschützt und aufgehoben an diesem Morgen, dreiundfünfzig Minuten vor dem Schulgong (dreitausendeinhundertachtzig Sekunden). Ich fühle mich geradezu gepanzert, als würde die Kleidung wie ein guter, alter Freund für mich eintreten und sich für mich zur Wehr setzen. Nun stehe ich daund sehe den Stapel mit der neuen Wäsche immer noch daliegen, aber ich spüre kein schlechtes Gewissen und mache mir auch keine Sorgen deshalb. Ich weiß, daß mich keinerlei Strafe erwarten wird, auch wenn sie versuchen werden, mich doch noch irgendwie aus der alten Kleidung heraus und in die neue Kleidung hinein zu bringen, und meine Hoffnung wird darin bestehen, so spät zum Frühstück hinunterzukommen, daß es ihnen nicht mehr möglich sein wird, mit der Abfahrt so lange zu warten, bis ich umgezogen bin und die neue, korrekte, für den Tag vorgesehene Wäsche trage. Also kümmere ich mich um den neuen Stapel nicht weiter, sondern lasse ihn einfach liegen und beginne, meinen Schulranzen zu packen.
Währenddessen stellt sich ein bestimmtes Gefühl in meiner Kehle ein, das ich inzwischen kenne. Es ist, als würde meine Kehle anwachsen beziehungsweise etwas in ihr. Kein Fremdkörper, aber doch etwas nicht zu mir Gehöriges, wie eine Krankheit. Etwas, was mir meine Kehle entfremdet oder mich meiner Kehle entfremdet, weil sie so groß dabei wird, daß es eigentlich nicht meine gewöhnliche sein kann. Noch ist sie nicht allzugroß, aber ich merke, wie sie zu wachsen beginnt. Ohne weiter darauf zu achten, schaue ich auf meinen Stundenplan, dort stehen vielleicht sechs Stunden für diesen Tag: Deutsch (Klassenlehrerin), Rechnen (ein anderer
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