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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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Lehrer),Erdkunde (Klassenlehrerin), vielleicht Religion, vielleicht Naturkunde (beides andere Lehrer). Ich packe die entsprechenden Hefte ein und schaue mein Mäppchen auf Vollständigkeit durch. Buntstifte, Radiergummi, Bleistiftspitzer, Lineal, Füller, Filzstift et cetera . Alles da. Hausaufgaben ebenfalls gemacht. Alles packe ich in einen kleinen, roten Lederranzen hinein, den bereits mein Bruder und später meine Schwester benutzt haben, je am Anfang ihrer äußerst unterschiedlichen Schulkarrieren. Während ich die Metallschnalle einrasten lasse, bemerke ich, daß der Kloß in meinem Hals wieder ein Stück angewachsen ist, vielleicht fällt es mir bereits ein wenig schwer zu schlucken. Ich schlucke und merke tatsächlich, daß da ein Widerstand ist. Kurzer Blick zu den Linden hinaus. Ich setze mich auf meine Bettkante und warte, ob die Geräusche draußen abebben und die Familie sich inzwischen am Frühstückstisch versammelt hat. Sie sind aber noch im ersten Stock. Komm rechtzeitig runter! höre ich jemanden rufen (Vater oder Mutter). Meine Schwester mußten sie nie ermahnen. Sie würde ja gleich ihre Freundinnen und ihre Gruppe auf dem Schulhof treffen, und darauf freute sie sich mehr als auf irgend etwas anderes. Mein Bruder lebte inzwischen als Schüler völlig selbständig, er lief jeden Tag allein zu seinem Gymnasium in die Stadt. Weil ich auf den Ruf Komm rechtzeitig runter! nicht antworte,schaut nun jemand in mein Zimmer herein, sieht mich auf der Bettkante sitzen und fragt: Ist etwas? Nein, sage ich, ich glaube nicht. Na, dann komm bitte rechtzeitig runter, wird wiederholt, und der Betreffende zieht sich aus meinem Türrahmen zurück und geht die Treppe zum Frühstück hinunter. Inzwischen ist alles schwer auf mir geworden, als wären dort Gewichte, die mich auf die Bettkante hinunterdrücken, dennoch versuche ich aufzustehen, vorher aber schlucke ich noch einmal versuchsweise. Ich merke, daß es immer schwerer wird. Irgendwie gelingt es mir aufzustehen, und wie ich nun ins leere Badezimmer hinüberlaufe, fühle ich mich bereits völlig erschöpft. Aber noch ist ja eigentlich alles gut. Noch bin ich allein, noch bin ich nicht beim Frühstück und nicht in der Schule. Noch vierzig Minuten, viertausendzweihundert Sekunden. Es gibt ja auch noch dein Atmen, auf das du hören kannst, es gibt ja auch noch dein Herz, und du kannst jederzeit hören, wie es schlägt, es kann dich überallhin begleiten, es muß nicht das Geräusch der Usa sein, auch dein Atem kann es sein, auch dein Herz, auch wenn du dieses seltsame, große Gewicht trägst, wie du jetzt hinüberläufst ins Badezimmer im Haus im Mühlweg in Friedberg in der Wetterau, mitten in Deutschland und auf der Erde und im Universum, auf das der liebe Gott schaut. Ein Schulkind, auf dem Weg von seinem Zimmer ins Badezimmer, morgens um zwanzig nach sieben an irgendeinem Tag Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Es greift sich an den Hals und schluckt und starrt vor sich hin. Zähne putzen, Mund spülen. Eigentlich soll ich mich zuerst waschen (gründlich und mit einem Waschlappen den Oberkörper und das Gesicht) und mich erst dann anziehen, aber darauf achten sie inzwischen nicht mehr, sie haben es entweder aufgegeben oder sind einfach froh darüber, daß ich selbständig durch die halbe Stunde vor dem Frühstück komme mit meinem Waschen und Anziehen. Ich gelte inzwischen als »selbständig«. Warum sollten sie auch verstehen, daß sich nur Panik hinter dieser »Selbständigkeit« verbirgt? Warum sollten sie verstehen, daß ich nur deshalb lieber »selbständig« durch die erste halbe Stunde komme, weil alles andere noch schlimmer wäre? Es wäre ja völlig gleichgültig gewesen und hätte nichts geändert oder sie bloß erschreckt, wenn sie es begriffen hätten. Am Wasserhahn versuche ich, einen Schluck Wasser hinunterzubringen. Falls ich noch nicht groß genug bin, um mit dem Mund dorthin zu gelangen, benutze ich meinen Zahnputzbecher. Ich kann kaum noch schlucken. Ich bringe das Wasser nur so eben hinunter. Meine Kehle wird immer größer. Schon reicht sie links und rechts über meine Schultern hinaus, und wenn ich mich nach vorn beuge, scheint sie im Weg zu sein und mich zurückzufedern. Nun sinddie Verrichtungen im Badezimmer abgeschlossen, und ich gehe zurück in mein Zimmer, wissend, daß immer noch ein wenig Zeit ist, daß ich immer noch etwas Zeit verbringen kann, bevor ich zum Frühstück hinuntergehe. Ich soll spätestens um halb

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