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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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acht unten sein, und es ist gerade sieben Uhr siebenundzwanzig, und als es sieben Uhr dreißig ist, muß es immer noch keine Katastrophe bedeuten, wenn ich nicht gleich, sondern vielleicht erst in zwei oder drei Minuten hinuntergehe, oder vier, und ein wenig zu spät komme. Mein Kloß im Hals wird immer mehr zu mir selber, und dennoch versuche ich mich in meinen restlichen Minuten so einzurichten wie mit meinem warmen Kissen und meiner Decke, unter der alles gut ist. Ich hülle mich in die Zeit ein, und sie umarmt mich wirklich, scheint mir. Irgendwann rufen sie mich dennoch. Unten sitzen sie bereits beieinander, nur der Bruder ist schon zur Schule losgegangen. Noch siebenundzwanzig Minuten bis zum Gong, eintausendsechshundertzwanzig Sekunden. Der Kloß im Hals geht die Treppe hinab und füllt sie gänzlich aus und auch bereits das große, leere Foyer.

 
    D as Frühstück. Die erste Gesellschaft am Tag. Unter Menschen. Nun mußt du sein, was du nicht bist, und du weißt es schon so lang, und jeden Tag wiederholt sich das Mißverständnis. Jetzt mußt du deine Rolle spielen, und du kannst deine Rolle nicht spielen, und im Grunde haben sich auch schon alle daran gewöhnt, daß du deine Rolle nicht spielst, aber da sie keine andere Rolle für dich haben, fordern sie dir die Rolle dennoch ab, aus bloßer Gewohnheit, wenn auch inzwischen ohne jede Hoffnung. Kaum wirst du am Frühstückstisch sitzen, werden sie wieder an allem merken, wie du sie inzwischen aufgegeben hast und wie sie selbst dich aufgegeben haben, weil du, ihr Kind, sie enttäuscht hast. Auch wenn sie es nicht sagen. Schon das Begrüßungswort, das ich spreche, wird zu leise sein, und der Vater wird das Begrüßungswort eine Spur zu laut sprechen, so daß schon bereits im ersten Moment das Mißverhältnis da sein wird. Schon wie zögerlich du zum Stuhl gehen wirst, wird ihnen ihr Empfinden ins Gesicht schreiben, und daß du der lärmenden Schwester auf ihrem Stuhl nicht durch ein ebensolches Lärmen begegnest, sondern dich indich zurückziehst, wird sie ebenfalls, wie jeden Morgen, enttäuschen. Wenn sie dir etwas anbieten, Milch, Brot, wirst du nicht auf die richtige, kraftvolle, zukunftsgewisse Weise reagieren, und wenn die Mutter dir einen Toast mit Butter beschmiert hat, wirst du auf eine Weise hineinbeißen, die ihnen nur einen Gedanken übrigläßt: Wie er jetzt wieder so apathisch in seinen Toast hineinbeißt! Dabei ist es keine Lustlosigkeit, ich kann nur einfach nicht auf sie reagieren. Hätten sie mir das Frühstück in den Keller gebracht, wo ich hätte allein in meinem Raum sitzen können, wäre alles viel leichter gewesen. Mit den Jahren habe ich immerhin gelernt, so etwas wie eine Reaktion zu simulieren, ich weiß, sozusagen abstrakt, an welchen Stellen ich was wann zu tun und zu sagen habe, und ich versuche dann auch immer etwas zu sagen, aber es ist natürlich erkennbar, daß es unecht und bloß vorgespielt ist, folglich nehmen sie es in erster Linie als Unwillen wahr. Ein Unwillen am Rand der Gestörtheit oder darüber hinaus. Ich bin ein ganz und gar lust- und lebloses Wesen, wie ich so grundlos verstört in die Küche hereinkomme zum Frühstück, Tag für Tag. Und dabei bin ich doch nur in Alarmstimmung. Der Vater wird, in seinen langen Hemdsärmeln, zugeknöpft, aber noch ohne Sakko, mit frischem und munterem Gesicht (das, wenn er Migräne hat, ebenfalls vorgespielt sein wird) über den Rand der Wetterauer Zeitung hinaus immer wieder an seiner Kaffeetasse nippend, andauernd so etwas wie Frische und Energie und Mut für den Tag ausstrahlen. Er wird mir verbal auf die Schulter klopfen und mich zu ermuntern suchen, aber auch das wird nur vorgespielt sein, im Grunde haben wir uns alle schon seit dem Beginn meiner Schulzeit an diese Schauspielerei gewöhnt. Natürlich war der erste Schultag für mich ein Schock, sie hatten mich auf die übliche Weise mit einer Schultüte ausgestattet, Fotos von mir gemacht (übrigens lächle ich auf diesen Fotos, ich habe bis heute keine Ahnung, warum) und mich an der Schule abgegeben in die Hand meiner Klassenlehrerin. An diesem Tag versuchten alle, äußerst freundlich zu sein, und am zweiten Tag saß ich morgens beim Frühstück und muß noch immer unter Schock gestanden haben. Mit der Zeit gewöhnten sie sich daran, daß ich morgens in diesem für sie nicht nachvollziehbaren Zustand am Küchentisch saß. Sehr bald, schon in den ersten Wochen, machte ich damals Bekanntschaft mit meiner Kehle und dem

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