Das Haus
Migränezoll entrichten. Und es hilft nur ein einziges Kopfschmerzmittel, nicht Aspirin,nicht Paracetamol, nur die Ringtablette wird helfen können, wenn überhaupt.
Immer hatte er Ringtabletten dabei, überall. In seinem Aktenkoffer war stets ein Vorrat an Ringtabletten. Schon das Unsicherheitsgefühl war für ihn nicht zu ertragen, wenn keine Ringtabletten da waren. Dann mußte die Mutter morgens gleich in die Stadt fahren und Ringtabletten in der Apotheke besorgen. Mein Vater führte ein Leben mit Ringtabletten. Oft steckte ein Streifen Tabletten in seiner Hemdtasche. Auch in seinem Nachttisch: Neben dem Burschenschaftsgesangbuch aus frühen Jahren lag dort immer ein Päckchen Ringtabletten. Nur die allerwichtigsten Gegenstände, also die Sehnsuchtgegenstände seiner Jugend und Studienzeit, fanden sich dort in der Schublade des Nachttischs wie in einem Allerheiligsten, und daneben immer Ringtabletten. Fast jeden Tag fiel dieses Wort in meiner Kindheit. Wo sind meine Ringtabletten? Ich habe keine Ringtabletten mehr. Gib mir bitte eine Ringtablette! Bitte schnell! War er unterwegs ohne Tabletten, kam Panik auf. Es war fast eine Symbiose. Waren die Eltern in Südtirol und ging der Vorrat an Ringtabletten aus, weil sie ihn zu knapp bemessen hatten, dann stiegen sie in den Mercedes-Benz-Dienstwagen und fuhren bis über die Grenze nach Deutschland und dort in die nächste Apotheke nach Mittenwald. Ringtabletten gab es nämlich weder inItalien noch in Österreich. Die Schmerzen müssen furchtbar gewesen sein. Ich stellte mir vor: Als würde man mit beiden Daumen auf die Augen drücken und dann die Augen langsam in den Kopf hineindrücken und anschließend mit den Daumen im gesamten Gehirn herumwühlen. Oder als würde man Pflöcke in die Ohren treiben oder in die Schläfen. So sah er aus, wenn es richtig schmerzhaft wurde. Es konnte so schlimm werden, daß er weinte vor Schmerz und es nicht einmal merkte. So weit ist es noch nicht, noch sitzt er nur zusammengesunken am Frühstückstisch, und die Schwester, die ihn nun schon seit längerer Zeit einer eingehenden Betrachtung unterzieht, wedelt immer lustvoller und kräftiger mit den Beinen unter dem Tisch und tritt plötzlich mit aller Gewalt gegen das Tischbein, worauf der ganze Frühstückstisch laut klirrt, jede Tasse und jeder Löffel und jedes Messer. Mein Vater fährt vollkommen erschrocken auf und schaut die Schwester fassungslos an. Das Klirren hat seinen heute so empfindlichen Ohren fast das Trommelfell zerfetzt, und es setzen gleich um so massivere Schmerzwellen in seinem Kopf ein. Jeden Morgen dasselbe, sagt die Mutter zur Schwester. Der Vater bleibt stumm. Er blickt schon wieder unter sich und nimmt nun alles nur noch widerstandslos hin, was folgen wird. Zwei- oder dreimal haben wir ihn ohnmächtig werden sehen beim Frühstück. Da war er ganz unterseinen Schmerzen weggesackt und lag mit dem Oberkörper auf dem Tisch. Seitdem das zum ersten Mal passiert war, warteten alle Beteiligten immer ängstlich darauf, daß es wieder passiere beim Migräneanfall am Frühstückstisch.
Was nun geschieht, geht wortlos und ohne weitere Absprachen vonstatten. Mein Vater hat aufgegeben, meine Mutter stützt ihn, nach einer Weile erhebt er sich langsam und schaut nur noch starr vor sich hin. Die Aufgabe, die ihm bevorsteht: den Weg hinauf ins Schlafzimmer bewältigen, erst durch die Küchentür und den Hausarbeitsraum, von der Mutter geführt, dann ins Foyer, wo mein Ranzen steht und sein Aktenkoffer und das Sakko für den Arbeitstag an der Garderobe hängt (heute hat es frei und wird dort hängen bleiben, bis es die Mutter wieder wegräumt), dann Schritt für Schritt die Treppe hinauf, Marmorstufe um Marmorstufe, rechts am Geländer festhalten, links die stützende Ehefrau. Oben dann sitzt er auf der Bettkante und wird mehr von der Mutter entkleidet, als daß er sich selbst auszieht, denn dazu ist er nicht mehr in der Lage. Sie knöpft ihm das Hemd auf, streift es ab, er hebt mühsam die Arme, sitzt nun im Unterhemd da, und die Schuhe müssen auch noch geöffnet werden. Zug um Zug wird rückgängig gemacht, wie er sich fünfundvierzig Minuten zuvor für den Tag vorbereitet hat, am Ende muß er noch in den Schlafanzughinein, und endlich kann er auch die Vertikale verlassen und sackt zurück in die Horizontale, in den Ursprungszustand. Nun wird das Zimmer verdunkelt, ein Waschlappen geholt, dann schließt meine Mutter die Tür. Ab jetzt muß die ganze Welt von ihm ferngehalten
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