Aschenputtel: Thriller (German Edition)
Aus irgendeinem Grund musste er , wenn er seinen Gedanken freien Lauf ließ, früher oder später immer wieder an die Krankenakte denken. Meist geschah dies nachts.
Er lag ganz still in seinem Bett und sah zur Decke hinauf, wo eine Fliege saß. Dunkelheit und Ruhe waren nie sein Ding gewesen. Es war, als würde er wehrlos, sobald die Sonne verschwand und Müdigkeit und Dunkelheit herankrochen, ihn zu umfangen. Und Wehrlosigkeit war etwas, das ihm zutiefst widerstrebte. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er daran gearbeitet, auf der Hut zu sein, vorbereitet. Aber selbst nach Jahren der Übung empfand er es als ungeheuer schwierig, aus der Ruhe heraus bereit zu sein. Bereitschaft erforderte einen wachen Geist. Er war es gewohnt, wach zu sein. Und er war daran gewöhnt, der Müdigkeit, die in seinem Körper steckte, wenn er sich den Schlaf verweigerte, nicht nachzugeben.
Es war inzwischen lange her, dass er nachts weinend aufgewacht war. Es war lange her, dass die Erinnerungen wehgetan und ihn schwach gemacht hatten. In dieser Hinsicht war er in seinem Kampf um Frieden schon beachtlich weit gekommen.
Aber dennoch…
Wenn er die Augen ganz fest schloss und wenn es um ihn herum ganz, ganz still war, dann sah er sie wieder vor sich. Ihre große Gestalt löste sich aus den dunklen Schatten, und er sah sie auf sich zuschwanken. Langsam, ganz langsam, so wie sie sich immer bewegte.
Bei der Erinnerung an ihren Geruch musste er immer noch würgen. Dunkel, süß und staubig. Unmöglich, diesen Geruch einzuatmen. Wie der Geruch der Bücher in ihrer Bibliothek.
Und er konnte ihre Stimme hören.
» Du Nichtsnutz«, zischte sie. » Du wertlose Missgeburt.«
Und dann packte sie ihn und hielt ihn fest.
Den Worten folgten stets Schmerz und Bestrafung. Feuer. Die Erinnerung an das Feuer lebte noch immer in Teilen seines Körpers. Aber wenn er mit dem Finger über die Narben strich, wusste er, dass er überlebt hatte.
Als er noch ganz klein gewesen war, hatte er angenommen, die Bestrafung wäre die Folge davon, dass er immer alles falsch machte. Dabei hatte er immerzu versucht, alles richtig zu machen. Verzweifelt und hartnäckig. Und doch: Es wurde nur Falsches daraus.
Als er älter wurde, begann er zu begreifen, dass es einfach nichts gab, was richtig war. Nicht nur seine Handlungen waren falsch und wurden bestraft. Sein ganzes Wesen und seine Existenz waren falsch. Er wurde dafür bestraft, dass es ihn gab. Hätte es ihn nicht gegeben, wäre sie nicht gestorben.
» Dich hätte es nie geben dürfen!«, brüllte sie ihm ins Gesicht. » Du bist böse, böse, böse!«
Das Weinen, das danach kam, nach dem Feuer, musste immer lautlos sein. Still, still, damit sie nichts hörte. Denn dann kam sie wieder zurück. Wieder und wieder.
Er erinnerte sich daran, dass die Beschuldigungen lange Zeit eine große Angst in ihm hervorgerufen hatten. Angst davor, dass er sich niemals damit abfinden könnte, getan zu haben, was sie ihm vorwarf. Dass er sich nie rechtfertigen und seine Sünden würde büßen können.
Die Krankenakte.
Irgendwann suchte er das Krankenhaus auf, in dem sie gepflegt wurde, und las ihre Akte. Hauptsächlich, um eine Ahnung vom Ausmaß seines Verbrechens zu bekommen. Da war er bereits mündig. Mündig, aber auf ewig für seine Untaten in Schuld verstrickt. Doch der Inhalt der Krankenakte verwandelte ihn auf ganz unerwartete Weise von schuldig in frei. Mit der Befreiung kamen Kraft und Erholung. Er erhielt ein neues Leben und neue wichtige Fragen, zu denen er Stellung beziehen musste. Die Frage war nun nicht mehr, wie er für jemand anderen büßen sollte. Die Frage war, wie für ihn gebüßt werden konnte.
Er lag im Dunkeln, lächelte und betrachtete die neue Puppe, die er sich ausgesucht hatte. Er konnte sich natürlich nicht sicher sein, aber er glaubte, dass sie ihm länger erhalten bleiben würde als die früheren. Sie musste nur noch lernen, mit ihrer Vergangenheit umzugehen, so wie er es selbst auch gelernt hatte. Alles, was sie brauchte, war eine ruhige Hand, seine ruhige Hand.
Und Liebe. Sehr viel Liebe. Seine ganz besondere und wegweisende Liebe.
Vorsichtig strich er ihr über den Rücken. Aus Versehen– oder vielleicht weil er die Verletzungen, die er ihr zugefügt hatte, wirklich nicht sah– strich er über einen der ganz frischen Blutergüsse. Wie ein dunkler, kleiner See lag er auf ihrem Schulterblatt. Sie wachte mit einem Ruck auf und drehte sich zu ihm um. Ihre Augen glänzten vor Angst. Sie
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