Das heilige Buch der Werwölfe
… Wenn nun so ein Ding noch irgendwo bei mir dranklebt?«
»Nein, nein, keine Bange. Er hat dich auf den Arm genommen. Wir haben dich über die Putzfrau aufgetrieben, die bei dir immer das heiße Wasser holt. Die arbeitet für uns, seit fünfundachtzig schon.«
Man lernte nie aus.
Als ich Stunden später mit zwei Tüten im Arm zurückkehrte, schlief er. Ich setzte mich neben ihn, schaute ihm lange ins Gesicht. Sein Schlaf war ruhig wie bei einem Kind. Auf dem Boden stand das Glas mit den drei blutigen Silberknollen. Einen Werwolf tötet man nicht so leicht. Michalytsch zum Beispiel: Dem konnte man sonst was über den Schädel hauen, der bekam davon nur bessere Laune. Der Champagner ist mir zu Kopf gestiegen, witzelte er hinterher … Ein harter Kerl. Das hier war keine Champagnerflasche, das waren Gewehrkugeln. Für meinen lieben Alex trotzdem eine Bagatelle.
Der alte Mythos, dass man Werwölfe nur mit Silberkugeln zur Strecke bringt – er hat unserer Community schon viel genützt! Denn
1. eitern die Wunden nie, man muss auch nicht desinfizieren – Silber ist ein natürliches Antiseptikum.
2. bekommen wir so überhaupt weniger Kugeln ab; die Menschen geizen mit Edelmetall und nehmen oft nur eine einzige Patrone mit auf die Jagd – in der Annahme, jeder Treffer müsste tödlich sein.
Im wirklichen Leben dagegen bringt ein Schuss sehr viel häufiger dem Schützen den Tod. Würden die Menschen ihr Hirn ein bisschen mehr anstrengen, kämen sie von selber drauf, wer diese Gerüchte über Silberkugeln in die Welt setzt. Doch Menschen denken zwar viel aber selten richtig, und sowieso nicht an das, was anstünde.
In den Tüten, die ich angeschleppt hatte, waren Lebensmittel und noch dieses und jenes nützliche Ding dazu. Während ich in den Graben hinabstieg und mich hinter den Tüten in die dunkle Betonröhre schob, kam mir der Gedanke, dass ich mich nun im Grunde überhaupt nicht mehr von den -zig Tausenden jung-verheirateter russischer Mädchen unterschied, auf deren zarten Schultern ganz allein der Haushalt lastete. All dies war so überraschend geschehen und glich so wenig den verschiedenen Rollen, die ich bisher im Leben gespielt hatte – ich hatte nicht einmal darüber nachdenken können, ob mir das gefiel oder nicht.
Wertieren wird nachgesagt, dass philosophische Probleme sie nicht interessieren. Nach dem Motto: Einer wird zum Werwolf respektive Werfuchs, heult den Mond an, reißt jemandem die Kehle auf, und alle großen Lebensfragen (wer bin ich und wozu auf der Welt, wo komme ich her, wo gehe ich hin?) sind gelöst … So ist das durchaus nicht. Die Rätsel der Existenz plagen uns weit mehr als jeden »marktwirtschaftlich orientierten« Menschen der Gegenwart. Nichtsdestoweniger werden wir im Kino weiterhin als selbstgefällige, phantasielose Vielfraße der immergleichen Sorte hingestellt, armselige, grausame Blutsauger.
Ich glaube übrigens nicht, dass den Menschen etwas daran liegt, uns auf diese Weise zu beleidigen. Es ist vielmehr ein Ausdruck ihrer Beschränktheit. Sie schöpfen uns nach ihrem eigenen Bild, ein anderes Modell haben sie nicht.
Selbst das Wenige, was die Menschen über uns wissen, ist verzerrt und trivial bis dorthinaus. Über Werfüchse beispielsweise erzählt man sich, sie hausten in Menschengräbern. Wenn die Leute so etwas hören, stellen sie sich Gerippe vor, Gestank, verwesende Leichen. Was müssen diese Werfüchse für ein ekles Gezücht sein, dass sie es an so einem Ort aushalten, denken die Leute dann. Etwas wie monströse Grabwürmer.
Das ist natürlich ein Trugschluss. Der Sachverhalt ist, dass das Grab in der Antike eine komplizierte Anlage aus mehreren trockenen, geräumigen Kammern war, über ein System von Bronzespiegeln fiel Sonnenlicht herein (nicht sehr viel, doch für die nötigen Verrichtungen reichte es aus). Solch ein Grab, weitab von menschlichen Behausungen gelegen, war eine ideale Wohnstatt für Geschöpfe wie mich, denen das weltliche Treiben fremd und ein Hang zu einsamen Gedankenausflügen eigen war. Von diesen Grabanlagen gibt es heutzutage kaum noch welche: Sie sind untergepflügt, von Kanälen und Straßen tranchiert. Und in den neuzeitlichen Friedhofs-Kommunalkas ist es selbst den Toten zu eng.
Doch treibt mich die Nostalgie bis heute hin und wieder auf den Moskauer Wostrjakowo-Friedhof: ein bisschen die Alleen entlangschlendern, an die Ewigkeit denken. Man sieht die Kreuze, die Sterne auf den Grabsteinen, liest die Namen, schaut
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