Das heilige Buch der Werwölfe
anfing.
Er weinte. Das hatte ich noch nie gesehen.
»Was ist denn los, was hast du?«, bemühte ich mich liebevoll um ihn. »Wer hat meinem kleinen Jungen ein Leid getan?«
»Niemand«, sagte er. »Mir war so. Wegen deiner Camillappalia, die unten Zähne hat.«
»Ihretwegen musst du heulen? Aber warum denn?«
»Weil sie dort Zähne hat und ich … neuerdings … Krallen.«
»Wo?«
»Na eben … da. Wenn ich mich verwandle. So was wie eine fünfte Pfote. Ich hab mir nicht getraut, es dir zu sagen.«
Nun war alles klar. Seine neue Verschlossenheit, die Aura einer irrationalen Grausigkeit, die ihn umgab, solange er Hund war. Alles passte zueinander. Der Ärmste, wie sehr muss er gelitten haben!, dachte ich. Vor allem sollte ich ihm zu verstehen geben, dass er mir auch so lieb und teuer war – falls er das noch nicht gemerkt hatte.
»Du Dummer!«, begann ich. »Was tut das? Von mir aus kann dir dort ein Kaktus wachsen. Hauptsache, der Schweif ist heil.«
»Dir ist das wirklich nicht wichtig?«, fragte er.
»Natürlich nicht, Liebster.«
»Und dir genügt es … ich meine, so wie wir es machen?«
»Es genügt mir nicht nur.«
»Ehrlich?«
»Na gut, wenn du schon so fragst: Ich würde auch gerne mal tauschen. Dass du ab und zu Su bist und ich Chow. Bis jetzt bin ich immer nur Su gewesen.«
»Nein, entschuldige. Du musst mich nicht auch noch zum Homo machen. Es reicht mir schon mit den Krallen …«
»Wie du meinst. Ich bestehe nicht drauf. Es war ja nur, weil du gefragt hast.«
»Können wir mal ganz offen darüber reden?«
Ich nickte. »Das tun wir doch schon.«
»Warum hast du mir in der ganzen Hongkong-Zeit kein einziges Mal einen geblasen? Ist es, weil ich in Wirklichkeit ein schwarzer Hund bin?«
Ich zählte im Stillen bis zehn. Dass ich dieses Thema verbal nicht ertrug, war letztlich nicht sein Problem, sondern meines. Ich durfte es ihm nicht übelnehmen.
»Du glaubst also, dass du in Wirklichkeit ein schwarzer Hund bist?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete er, »aber der schwarze Hund glaubt, dass ich in Wirklichkeit er bin.«
»Bist du deshalb in letzter Zeit so selten Mensch?«
Er nickte.
»Mir liegt auch nicht mehr so viel dran. Außer dir habe ich ja hier nichts mehr. Alles ist dort geblieben … Also ich meine, hier, aber nicht bei mir, sondern bei ihm … Mann, mit der Sprache, da hast du Recht, sie macht einen ganz wirr im Kopf. Aber wie ist das mit dem Blasen, sag mal?«
Noch einmal zählte ich bis zehn, aber es half nichts.
»Dürfte ich darum bitten, dieses Thema in meiner Gegenwart nicht mehr anzuschneiden?«, platzte ich heraus.
Er zuckte die Achseln und grinste schief.
»Jetzt darf man schon nicht mal mehr alles sagen. Nur du hast die Sondergenehmigung, wie? Du treibst mich ziemlich in die Enge, Füchslein, ist dir das klar?«
Ich seufzte. Unterm Strich nehmen die Kerle sich doch nicht so viel. Alle wollen sie von uns nur das eine. – Und man kann froh sein, wenn sie überhaupt wollen, gab eine meiner inneren Stimmen zu bedenken.
»Egal. Mach uns Kino. Aber nicht von vorne, fang an bei Track 3 …«
Wie nach jedem unserer unbändig schamlosen Hongkong-Rendezvous ruhten wir lange aus. Ich blickte zur Decke auf den rissigen Beton, der im scharfen elektrischen Licht wie die Oberfläche eines uralten Himmelskörpers erschien. Alexander lag neben mir. Du mein Süßer!, dachte ich, was für ein rührender Liebhaber du bist! Dabei war er in diesen Dingen vollkommen unerfahren. Wenigstens im Vergleich zu mir. Ich musste übrigens aufpassen, ihn nicht versehentlich tatsächlich Süßer zu nennen, das hätte er wieder in den falschen Hals bekommen. Mit diesen Krallen, das war nun wirklich Pech für ihn. Irgendwo hatte ich schon einmal etwas gehört von einem Hund mit fünf Pfoten. Aber wo, wie, was? Es fiel mir nicht ein.
»He!« gab er Laut. »Gehts dir gut?«
»Ja«, sagte ich. »Und dir? Hats dir gefallen?«
Er blickte mich an.
»Willst dus ehrlich wissen?«
»Aber ja.«
»Es ist der Anschiss.«
Ruckartig setzte ich mich auf. Bei »Anschiss« fiel bei mir der Groschen.
»Jetzt weiß ich es wieder!«
»Was weißt du wieder?«
»Wer du bist.«
»Wer bin ich?«
»Ich hab mal was gelesen über einen Hund mit fünf Beinen. Der heißt Pisdez. Schläft im ewigen Schnee und erwacht immer dann, wenn Russland vom Feind angegriffen wird, dann geht er hin und tritt ihm drauf … Genau! In den Mythen des Nordens kommt er, glaube ich, unter dem Namen Garm vor. Schon mal gehört
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