Das heilige Buch der Werwölfe
nahmen. Ich hatte nicht gedacht, mich einmal in dieser Rolle wiederzufinden.
Ach, mein lieber Alex, dachte ich, schade, dass du nie über so was sprichst, und ich traue mich nicht, danach zu fragen, aber … du wirst dein voriges Leben – das einsame, raue, wölfische – doch hoffentlich nicht vermissen? Mit mir ist es doch viel besser als allein – nicht wahr, Liebster?
Wie?
… Y tú, tú contestando:
Quizás, quizás, quizás …
Mehr als einmal dachte ich darüber nach, was dieser Hund, der sich angeblich vom Werwolf genausosehr unterschied wie ein Werfuchs, nun eigentlich für einer war. Mythologische Parallelen ließen sich viele finden, aus eigener Erfahrung war mir solch seltsame Abart eines Werwesens bisher unbekannt. Dieser blauschwarze Köter machte einen harmlosen Eindruck, doch mein Instinkt sagte mir, dass er ein düsteres Geheimnis barg. Zufällig kam es heraus.
Der Tag hatte mit einem kleinen Streit begonnen. Wir hatten uns zu einem Waldspaziergang aufgemacht, rasteten auf einem umgestürzten Baumstamm, und ich kam auf die Idee, ihn mit einem alten chinesischen Lied auf Verse von Li Bo zu unterhalten: Der Mond über dem Grenzgebirge. Es klang, denke ich, gar nicht übel, ein bisschen zu hoch vielleicht, aber das hatten sie im alten China immer besonders gemocht. Doch meine Sangeskunst prallte frontal gegen die Cross-Culture-Barriere.
»Womit habe ich, ein russischer Offizier, das verdient? So auf den Hund zu kommen!«, murmelte er kopfschüttelnd, als ich fertig mit Singen war.
Vor Kränkung schoss mir das Blut in den Kopf.
»Du und ein russischer Offizier? Machs halblang. Du bist Brigadier eines Rollkommandos.«
»Wir töten keine unschuldigen Menschen«, stellte er nüchtern fest.
»Und den Puschkinologen Schietmüller, habt ihr den etwa nicht in den Tod geschickt? Meinst du, das weiß keiner?«
»Schietmüller – wer soll das sein?«
»Oder wie der hieß … Der den Leuten für ne Kippe einen geblasen hat …«
»Irgendwie tickst du nicht richtig. Mal kommst du mir mit nem Fischkopf als Bärendienst, dann stirbt irgendein Schietmüller, und immer soll ich schuld sein.«
»Sagen will ich damit bloß, dass du reichlich Dreck am Stecken hast, darüber weiß ich Bescheid. Und liebe dich trotzdem.«
»Das ist ja das Problem«, sagte er leise.
Ich traute meinen Ohren nicht.
»Wie bitte? Sag das noch mal!«
»Nur ein Scherz«, sagte er schnell. »Du machst die ganze Zeit Witze, dann darf ich wohl auch mal.«
Das Schreckliche war, dass seine Worte kein Scherz waren. Wir wussten es beide. Ein lastendes Schweigen machte sich breit.
»Und den Schietmüller haben wir nicht in den Tod geschickt, sondern in den unsterblichen Ruhm«, sagte er nach einer Weile. »Es gehört sich nicht, sein Andenken in den Schmutz zu ziehen.«
Richtig. Ein Themenwechsel war angesagt.
»Soll das heißen, er hat es gewusst?«, fragte ich.
»Mit einem Eckchen seines Bewusstseins wird er es gewusst haben.«
»Und das bedeutet, man hat sich nichts vorzuwerfen, ja?«
Alexander zuckte die Achseln.
»Erstens hatten wir eine Verpflichtungserklärung von ihm, die er in der Klapsmühle unterschrieben hat: Ich möchte einmal London sehen und sterben, Datum und Unterschrift. Und zweitens haben wir zu den humanitären Aspekten der Aktion vorher einen Fachberater konsultiert. Der meinte, es wäre o.k.«
»Wohl Pawel Iwanowitsch?«, fragte ich ahnungsvoll.
Alexander nickte.
»Wie hat der überhaupt zu euch gefunden? Pawel Iwanowitsch, meine ich?«
»Ihm lag irgendwie daran, dass wir von seiner Reue erfuhren. Seltsamer Fall natürlich, aber warum so einen vor den Kopf stoßen? Besonders wenn die Reue echt ist. Informationen können wir immer gebrauchen – gerade auch auf kulturellem Gebiet: dass man ungefähr weiß, wer dafür ist, wer dagegen. Das bedeutet wieder neue Konsultationen. So hat sich das eingespielt … Na gut, wir kommen vom Thema ab. Gott hab ihn selig, den Schietmüller. Falls die Imame nicht flunkern, heißt das.«
Danach wechselten wir bis zum Abend kein einziges Wort mehr. Ich schmollte, er schmollte – es war von beiden Seiten reichlich ausgeteilt worden. Am Abend, als ihm das Schweigen zu viel wurde, sollte ich ihm dann für sein Kreuzworträtsel vorsagen.
Er war an dem Abend in menschlicher Gestalt, wodurch es in meiner Klause immer besonders gemütlich war. Ich lag unter der Lampe auf der Matte und las Stephen Hawkings neuestes Opus Eine kurze Geschichte des Universums , worin
Weitere Kostenlose Bücher