Das heilige Buch der Werwölfe
zu liegen. Ich las, was zu lesen war, glich das Foto mit dem Gesicht meines Gegenübers ab. Auf dem Foto trug er einen Uniformrock mit Schulterklappen. Er hieß Wladimir Michailowitsch und war Oberst beim FSB.
»Kannst Michalytsch zu mir sagen«, sagte er und grinste. »So nennen mich meine Freunde. Ich hoffe ja, dass wir beide auch noch Freundschaft schließen.«
»Was verschafft mir die Ehre, Michalytsch?«
»Einer unserer Fachberater hat sich über dich beschwert. Du musst ihn irgendwie beleidigt haben. Da steht also ein bisschen Sühne an. Oder sagt man Buße dazu?«
Vom Äußeren her war er ein Durchschnittstyp: energisches Kinn, stählerne Augen, flachsblondes, in die Stirn gekämmtes Fransenhaar. Doch eine gewisse Trapezförmigkeit der unedlen Proportionen rückte dieses Gesicht in die Nähe des westlichen Musterfeindbildes aus Zeiten des Kalten Krieges. Kinohelden dieser Art pflegten erst ein Glas Wodka zu kippen, sich dann das Glas einzuwerfen, und unter dem Splittern des Glases hörte man sie sagen, es handele sich um einen alten rrrussischen Brrauch.
»Ach du Scheiße«, murmelte ich. »Subbotnik oder was?«
»He-he«, fuhr er beleidigt auf, »mach mal einen Unterschied zwischen dem FSB und den Bullen. Du kriegst dein Geld.«
»Wie viel seid ihr?«, fragte ich mit müder Stimme.
»Ich bin alleine … Oder sagen wir: zu zweit, maximal.«
»Und wer ist der andere?«
»Das wirst du gleich sehen. Keine Angst, ich führ dich nicht hinters Licht.«
Er zog den Tischkasten auf und entnahm ihm eine Schachtel mit allerlei Medizinkram: Döschen, Watte, eine Packung Einwegspritzen. Eine Spritze war schon vorbereitet – wegen der grellroten Kappe auf der Nadel glich sie einer Zigarette, an der jemand so heftig gezogen hat, dass die Glut über die ganze Länge hineingefahren ist.
»Fixen kommt nicht in Frage«, sagte ich. »Nicht mal fürs Fünffache.«
»Dummchen«, sagte er und schien erheitert, »für dich ist das bestimmt nicht gedacht.«
»Und Vorkasse. Wer weiß, wie Sie in einer halben Stunde drauf sind.«
Er warf mir ein Kuvert zu. »Da hast du!«
Von Repräsentanten der russischen Mittelklasse bekommt man die Dollars oft im Briefkuvert ausgehändigt – so wie sie sie zu kriegen gewöhnt sind. Das macht Eindruck. Man kommt sich vor wie auf einen sozialen Aussichtsturm gehoben, von dem aus man Einblick ins geheime Räderwerk hat, den Wirtschaftsmechanismus des Landes … Ich öffnete das Kuvert und zählte nach. Es war der versprochene dreifache Tarif, plus fünfzig Dollar. Man konnte sagen, das Niveau vom Hotel National. Solche Kunden musste man sich warm halten – oder zumindest den Anschein erwecken. Ich setzte ein charmantes Lächeln auf.
»Also. Egal ob Sühne oder Buße. Wo ist noch mal das Bad?«
»Gedulde dich. Da kannst du noch früh genug hin.
»Ich …«
»Du sollst sitzen bleiben!« Er ging daran, seinen Ärmel aufzukrempeln.
»Sie sagten, es käme noch wer dazu. Wo ist er denn?«
»Wenn ich mich gespritzt habe, kommt er.«
Er zog ein Gummiband um den entblößten Bizeps, machte ein paarmal die Faust auf und zu.
»Was haben wir denn Feines in der Spritze?«, erkundigte ich mich missmutig.
Ich musste wissen, worauf ich mich gefasst zu machen hatte.
»Den Kitty-Ket-Express.«
»Wie??«
»Ein ganz spezielles K, mit anderen Worten«, erläuterte er.
Jetzt verstand ich, was in der Spritze war: Ketamin, lateinisch Calypsol, eins der härtesten Psychedelika; wer sich das in die Vene spritzte, musste Psychopath oder Selbstmörder sein.
»Doch nicht etwa intravenös?«, fragte ich ungläubig.
Er nickte. Ich bekam es mit der Angst. Schon die Ketamin-Junkies, die sich das Zeug intramuskulär gaben, waren gar nicht mein Fall. Nach diesen Spritzen gingen düstere Dinge mit ihnen vor. Sie taten wie Friedhofstrolle, auf denen der ewige Fluch lastet – wie aus der Armee der Toten in Herr der Ringe , letzter Teil. Und der hier wollte es sich in die Vene setzen. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass man das tat. Oder anders herum: Ich wusste, dass normale Menschen es nicht taten. Eine zweite Leiche binnen weniger als vier Wochen, das hätte mir gerade noch gefehlt. Höchste Zeit zum Rückzug.
»Hier haben Sie Ihr Geld wieder«, sagte ich. »Besser, unsere Wege trennen sich.«
»Was soll das denn jetzt?«
»Ihnen macht es nichts aus, wenn Sie tot sind. Aber mich zerren sie vor Gericht. Ich gehe.«
»Hab ich nicht gesagt, du sollst sitzen bleiben!«, fauchte Michalytsch.
Er
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