Das heilige Buch der Werwölfe
stand auf, ging zur Tür, drehte den Schlüssel herum und steckte ihn ein.
»Wenn du noch mal zuckst, wirst du's bereuen. Kapiert?«
Ich nickte. Er kehrte zum Tisch zurück, setzte sich und entnahm seiner Medizinschachtel ein seltsames Gerät, es sah aus wie ein Locher in sowjetischer Formgestaltung. Bestehend aus zwei halbrunden Scheiben, die durch eine simple Mechanik zusammenhingen. An der unteren Scheibe saß ein großer Saugnapf, die obere hatte eine sternförmige Ausstanzung und eine Inventarnummer, wie eine Dienstpistole. Michalytsch führte die beiden Scheiben zusammen, leckte den Saugnapf gründlich feucht und presste sich die Vorrichtung gegen den Unterarm. Dann setzte er die Spritze in den Stern, führte die Nadel behutsam in die Vene ein, kontrollierte – die Flüssigkeit im Kolben färbte sich dunkelrot. Dann berührte er den kleinen Hebel an der seltsamen Vorrichtung, und selbige fing laut zu ticken an. Michalytsch legte das Gesicht in konzentrierte Falten wie kurz vor einem Sprung ins Wasser, rückte die Füße auseinander, damit sie fester auf dem Boden standen, und drückte den Kolben bis zum Anschlag in den Zylinder.
Sein im Stuhl sitzender Körper erschlaffte beinahe sogleich. Ich weiß nicht warum, aber mir schoss der Gedanke durch den Kopf: So sind die Nazibonzen im Dritten Reich aus dem Leben gegangen. Unruhig horchte ich auf das Ticken – es hörte sich an wie eine Bombe, die gleich losgehen würde. Nach einigen Sekunden ertönte ein Schnappen, der Locher mitsamt der Spritze sprang vom Arm und fiel neben dem Stuhl zu Boden. In Michalytschs Armbeuge erschien ein winziger Blutstropfen. Kluge Erfindung!, dachte ich noch, da erwischte es mich.
An dieser Stelle muss ich eines klarstellen. Ich kann keine Gedanken lesen. Keiner kann das, denn bei niemandem im Kopf gibt es so etwas wie gedruckten Text. Und jenes Gedankenflimmern, das den Geist pausenlos durchzieht, dürfte keiner zu erfassen in der Lage sein, nicht einmal an sich selbst. Fremde Gedanken lesen zu wollen wäre das Gleiche, als suchte ein Blinder mit dem Krückstock nach ungelegten Eiern. Ich spreche nicht von der technischen Schwierigkeit sondern vom praktischen Wert eines solchen Tuns.
Dank ihres Schweifes können Werfüchse jedoch mit dem fremden Bewusstsein in eigenartige Resonanz geraten – zumal dann, wenn dieses fremde Bewusstsein überraschende Haken schlägt. Es erinnert an die Reaktion des peripheren Sehens auf plötzliche Bewegungen im halbdunklen Raum. Wir erleben eine kurzzeitige Halluzination, das ist wie ein abstrakter Computerclip. Einen Nutzen bringt dieser Kontakt nicht, und die meiste Zeit filtert unser Verstand diesen Effekt einfach aus – sonst könnten wir zum Beispiel unmöglich U-Bahn fahren. Meist ist er sowieso nur schwach ausgeprägt, verstärkt sich allerdings, wenn die Menschen unter Drogeneinfluss stehen, schon deshalb sind uns Junkies so zuwider.
Bei intravenöser Injektion von Ketamin gehen mit Obersten des russischen Geheimdienstes jedenfalls seltsame Dinge vor. Der Kitty-Ket-Express war keine bloße Metapher, sondern eine ziemlich realitätsnahe Bezeichnung: Obwohl der Körper schlaff wie eine Leiche im Stuhl hing, war das Bewusstsein unterwegs, fuhr durch einen orangenen Tunnel, angefüllt mit geisterhaften Formen, denen es geschickt auswich. Ständig gab es Abzweigungen, Michalytsch konnte sich aussuchen, wo er langfuhr. Es war das reinste Bobrennen: Michalytsch steuerte die eingebildete Jagd mit winzigsten, dem Auge verborgenen Drehungen seiner Handflächen und Fußsohlen, man konnte es gar nicht Drehungen nennen, es waren mikroskopische Kontraktionen der entsprechenden Muskeln.
Soweit ich verstand, waren diese orangenen Tunnel nicht bloß räumliche Gebilde, sie waren Wille und Information zugleich. Die ganze Welt verwandelte sich in ein riesiges selbstfahrendes Programm, so wie bei einem Computer, nur dass Hardware und Software hier nicht zu trennen waren. Michalytsch selbst war Teil dieses Programms, konnte sich jedoch gegenüber den anderen Baugruppen frei bewegen. Und sein Fokus fuhr rückwärts durch das Programm, auf den Anfang zu, die Klappe, hinter der etwas Schreckliches lauerte. Michalytsch war in den letzten Tunnel eingefahren, näherte sich nun der Klappe, stieß sie entschlossen auf. Und das Schreckliche, das dahinter war, brach aus und strebte nach oben – ans Tageslicht, ins Zimmer herein.
Ich beobachtete Michalytsch. Es kam Leben in ihn, doch auf seltsame, ungute Weise.
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