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Das heilige Buch der Werwölfe

Das heilige Buch der Werwölfe

Titel: Das heilige Buch der Werwölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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der vielstufigen Pracht des Daches – mit geschwungenen Ecken, kostbaren geschnitzten Drachen und roten Dachziegeln. Die Symbolik, die dahintersteht, leuchtet ein: Schätze anhäufen soll man nicht auf Erden, sondern im Himmel. Die Mauern stehen für die irdische Welt, das Dach für die, die danach kommt. Betrachtet man das Gemäuer, sieht man eine Hütte. Betrachtet man das Dach, so ist es ein Palast.
    Der Kontrast zwischen Pawel Iwanowitsch und dem, was man in Russland heutzutage als »Dach« bezeichnet, kam mir ebenso eindrucksvoll vor – und das ohne allen theologischen Hintergrund. Pawel Iwanowitsch war nur ein kleiner geisteswissenschaftlicher Dämon. Hingegen sein Dach … Aber der Reihe nach.
    Das Telefon klingelte zwei Tage nach der Exekution, morgens um halb neun, reichlich früh selbst für einen Kunden mit Neigungen. Die Nummer im Display sagte mir gar nichts. Ich war seit vier Uhr in der Frühe auf den Beinen und hatte bis zu diesem Moment schon eine Menge erledigt, trotzdem reagierte ich – man konnte nie wissen – mit verschlafener Stimme: »Halloo …«
    »Adèle?«, tönte es munter zurück. »Ich rufe wegen deiner Annonce an.«
    Ich hatte die Annonce schon wieder von der Website genommen, doch jemand konnte sie sich für den Tag X heruntergeladen haben, viele Kunden verfahren so.
    »Könnten Sie kleine Mädchen um die Zeit noch bisschen schlafen lassen?«
    »Wieso denn schlafen? Warm anziehen und Bewegung, hopp-hopp!«
    »Ich bin noch nicht wach.«
    »Expresszuschlag, dreifacher Preis. Wenn du in einer Stunde hier bist.«
    Dreifacher Preis? Ich hörte auf, mich zu zieren, und notierte die Adresse. Eine meiner lateinamerikanischen Schwestern erzählte gern die Geschichte, wie der panamaische General Noriega mit Vorliebe die ganze Nacht hindurch Whiskey soff und dann gegen Morgen eine der sechs Frauen, die er ständig bei sich hielt, zum Sex rief – meine Schwester wusste das deswegen so genau, weil sie eine davon war. Aber gut, das ging vielleicht in Panama: Kokain, heißes Blut und so weiter. Für die hiesigen Breiten war es ein eher obskurer Zug, so früh am Tag spitz zu sein. Irgendwie riskant kam mir die Sache aber nicht vor.
    Um schneller zu sein, nahm ich die Metro und war nach ungefähr fünfzig Minuten vor Ort. Der Kunde wohnte zentral, doch in ruhiger Lage. Als ich den Hof des angegebenen Hauses – steile Betonkerze mit Anspruch auf architektonische Innovation – betrat, meinte ich zuerst falsch zu sein, denn hier sah es aus wie auf dem Hinterhof einer Bank.
    Neben einem Stahltor in der Wand standen zwei Wächter, die mir mit finsterer Verwunderung entgegen blickten. Ich zeigte den Zettel mit der Adresse vor. Daraufhin nickte der eine in Richtung eines unscheinbaren Treppchens mit Tür und Wechselsprechanlage. Ich trat davor.
    »Adèle?«, fragte die Stimme im Lautsprecher.
    »Zu Diensten.«
    »Komm in den ersten Stock, letzte Tür«, sprach die Anlage. »Du siehst schon, wo.«
    Die Tür öffnete sich.
    Das Innere hatte wenig von einem Wohnhaus. Es gab keinen Fahrstuhl; eine Treppe eigentlich auch nicht. Das heißt, es gab eine, doch die endete im ersten Stock, stieß auf eine schwarze Tür ohne Spion und Klingelknopf, daneben glänzte die klitzekleine Linse einer Fernsehkamera. Es sah aus, als hätte sich jemand sämtliche Wohnungen vom ersten Stock aufwärts unter den Nagel gerissen und eine Tür davor gesetzt. Was natürlich eine vulgäre Vorstellung ist, die daher rührt, dass es hierzulande keine legitime Kultur des Großkapitals gibt. Klingeln musste ich nicht. Die Tür öffnete sich, noch während ich auf sie zulief.
    Auf der Schwelle stand ein kräftiger Mann um die fünfzig, gekleidet wie ein Bandit aus den Neunzigern: Jogginganzug Marke Adidas, Turnschuhe, Goldkettchen an Hals und Handgelenk.
    »Komm rein«, sagte er, drehte sich um und ging mir voraus durch den Korridor.
    Die Lokalität war eigentümlich, erinnerte eher an ein Büro. Eine der Türen, die vom Korridor abgingen, stand halb offen, durch den Türspalt sah ich eine vernickelte Metallstange, die in einem runden Loch im Fußboden verschwand; mehr zu sehen gelang mir nicht, da der Kunde die Tür vor meiner Nase zuzog.
    »Nach ganz hinten«, sagte er und ließ mich vorausgehen.
    Das Schlafzimmer am Ende des Korridors sah ganz zivil aus, nur der Geruch gefiel mir nicht – es roch nach Hund, und das irgendwie sehr konkret, wie in einem Hunde-Stundenhotel. Außer dem breiten Bett gab es noch einen flachen Clubtisch

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