Das heilige Buch der Werwölfe
Anatomie des Menschen kenne ich mich aus. Zu meiner großen Verblüffung jedoch schüttelte Michalytsch nur heftig den Kopf wie ein Säufer, über dem man einen Eimer Wasser ausgegossen hat. Dann hob er die Hand, wischte sich die Champagnerspritzer aus dem Gesicht. Anstatt ihn zu töten, hatte der Schlag ihn zur Besinnung gebracht. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
»Hör zu«, sagte der junge Mann. »Als Erstes nimmst du eine Dusche. Dann rufst du dir ein Taxi und fährst nach Hause. Lass dir eine kräftige Fleischbrühe kochen. Oder einen starken Tee. Und streng genommen, Michalytsch, müsstest du mit ner Ladung Val an den Tropf.«
Was das heißen sollte, war mir unklar.
»Zu Befehl«, sagte Michalytsch, der irgendwie auf die Beine gekommen war und in Richtung Bad wankte, eine Spur aus Champagnergeriesel hinterlassend. Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, wandte der junge Mann sich zu mir um und lächelte.
»Es ist stickig hier drin«, sagte er. »Erlauben Sie, dass ich Sie an die frische Luft geleite.«
Dass er mich siezte, gefiel mir.
Wir verließen die Wohnung auf anderem Weg. Es zeigte sich, dass die stählerne Stange, die ich in einem der Zimmer gesehen hatte, bis ins Erdgeschoss durchging. Stangen dieser Art findet man in Feuerwehrhäusern und Gogo-Bars. An so einer kann man geschwind zum großen roten Auto hinunterrutschen und sich die Medaille Für Tapferkeit am Brandherd verdienen. Oder man kann Brust und Popo erotikbetont daran reiben und sich ein paar feuchte Banknoten vom Publikum verdienen. Da sieht man wieder, wie viele verschiedene Wege uns das Leben eröffnet …
Zum Glück wurde heute weder das eine noch das andere von mir verlangt. Neben der Stange gab es eine schmale Wendeltreppe – für die weniger dringenden Fälle anscheinend. Über sie gelangten wir nach unten. Dort befand sich eine schummrige Garage, in der ein schickes schwarzes Auto stand: ein Maybach, und zwar ein echter. Davon gab es in Moskau vermutlich nur wenige Exemplare.
Der junge Mann verharrte neben dem Wagen, legte den Kopf in den Nacken, so dass seine Nase auf mich zeigte, und sog kräftig Luft ein. Es sah ziemlich übertrieben aus. Doch er bekam davon einen seligen Gesichtsausdruck, beinahe etwas wie Ergriffenheit.
»Ich wollte mich für das Vorgefallene bei Ihnen entschuldigen«, sagte er, »und Sie außerdem um einen Gefallen bitten.«
»Welcherart?«
»Ich bräuchte ein Geschenk für eine junge Dame etwa Ihres Alters. Und da ich mich in Sachen Schmuck für die holde Weiblichkeit nicht auskenne, wäre ich Ihnen für einen guten Rat sehr verbunden.«
Eine Sekunde lang zögerte ich. Eigentlich gehört es sich in solchen Situationen, bei erstbester Gelegenheit das Weite zu suchen – doch aus irgendeinem Grund hatte ich Lust, die Bekanntschaft fortzusetzen. Außerdem war ich gespannt auf das Innere des Wagens.
»Gut«, sagte ich.
Kaum aber saß ich auf dem Beifahrersitz, als ich mich umzuschauen vergaß: Ein an der Windschutzscheibe steckender Ausweis nahm meine Aufmerksamkeit gefangen.
Eine Tendenz zum Kitsch bei den russischen Machthabern war mir seit längerem aufgefallen. Beständig eiferten sie danach, sich in den majestätischen Schatten imperialer Geschichte und Kultur einzuschreiben, sich selbst sozusagen eine Adelsurkunde auszustellen, die die Abkunft von den glorreichen Vorfahren bezeugt – obwohl sie mit dem Russland von einst ungefähr so viel gemein haben wie irgendwelche Langobarden, die ihre Ziegen in den Ruinen des Forums weiden lassen, mit den Flaviern. Der Passierschein an der Maybach-Scheibe war ein aktuelles Muster aus diesem Genre. Darauf zu sehen der goldene doppelköpfige Adler sowie eine dreistellige Nummer, und darunter stand dieses:
Doch weißt du, dieser schwarze Wagen
darf überall hier ungehindert fahren.
A. S. Puschkin
Was sollte man dazu sagen? Der Adler, gut. Puschkin, o ja. Aber ein Gefühl der Zugehörigkeit zum Schicksal dieses großen Landes, «auf das die Designer vom Geheimdienst aus waren, wollte sich trotzdem nicht einstellen. Wahrscheinlich lag es an der falsch gewählten Referenzepoche. Man hätte nicht auf den imperialen Adler zurückgreifen sollen, sondern auf feudale Chroniken, Igorlied und so weiter. Dort war es einfacher, Vorbilder zu finden. Fürst »Großnest« Boris, Großfürst »Rotborke« Wladimir – das hätte doch ganz anders geklungen …
»Wo sind Sie mit den Gedanken?«
»Wie? Ich?«, schrak ich auf.
»Ja«, sagte er. »Beim
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