Das heilige Buch der Werwölfe
das obere Dreieck, und der Fahrstuhl riss uns mit mächtigem Ruck vom Erdboden los.
Als die Tür Sekunden später wieder aufging, schlug mir von allen Seiten grelles Licht in die Augen. Inmitten des Gleißens und Regenbogenflimmerns stand Alexander. Er trug Uniform, ein Gazeschleier verbarg sein Gesicht.
»Grüß dich, Ada«, sagte er. »Herzlich willkommen. Nein, entschuldige, Michalytsch – du bist nicht eingeladen. Heute würdest du stören …«
Das Penthouse war mir schon beim ersten Besuch aufgefallen, nur dass ich es nicht für ein solches gehalten hatte – von unten sah es aus wie der dunkle Druckknopf auf einem Riesenbetonbleistift. Es hätte ein Aufbau für die Fahrstuhlmotoren sein können, irgendein technischer Nebenraum, eine Boilerkammer vielleicht. Doch wie sich herausstellte, waren diese türkisfarbenen Wände von innen her durchsichtig.
Ich hatte dies noch nicht recht begriffen, da dunkelten die Wände vor meinen Augen ein, bis sie wie grünes Flaschenglas wirkten. Eben noch hatte ich in die Sonne geblinzelt, nun, binnen Sekunden, erstand vor meinen Augen eine komplette Wohnungseinrichtung, die vorher wegen des blendenden, auf eine Vielzahl von Spiegelflächen treffenden Sonnenlichts nicht zu sehen gewesen war.
Später erfuhr ich, dass es sich um eine teure technische Spielerei handelte: Die Transparenz der Wände wurde durch spezielle computergesteuerte Flüssigkristallfolien reguliert. Doch beim Eintreten glaubte ich an ein Wunder.
Wunder aber stimmen mich seit je ironisch, um nicht zu sagen: arrogant.
»Grüß dich, Alex«, sagte ich. »Was ist das denn für ein Budenzauber? Reicht dein Geld nicht für normale Gardinen?«
Er war verdutzt. Fing sich aber in kürzester Zeit und lachte.
»Alex!«, sagte er. »Das find ich gut… Na klar: Wenn du jetzt Ada bist, muss ich wohl Alex sein.«
Sein hellgrauer Uniformrock mit den zwei Knopfleisten und den Schulterklappen eines Generalleutnants, dazu die dunkelblauen Hosen mit den breiten roten Biesen – es wirkte ein bisschen operettenhaft. Im Nähertreten hob er den Gazeflor vom Gesicht, blinzelte und sog tief Luft ein. Mich interessierte, wozu er das immer machte, traute mich aber nicht zu fragen. Als er die Augen wieder öffnete, fiel sein Blick auf meine Ohrringe.
»Hübscher Einfall!«, sagte er.
»Nicht wahr? Dass die Steine verschieden sind, ist der Clou. Gefällt es dir?«
»Gefällt mir gut… Hat Michalytsch dir die Blume gegeben?«
»Hat er«, sagte ich. »Und ich soll überlegen, was die Botschaft sein könnte. Ist mir aber nichts dazu eingefallen. Vielleicht kannst du es mir selber sagen?«
Er kratzte sich am Kopf. Die Frage schien ihn verlegen zu machen.
»Kennst du das Märchen von der feuerroten Blume?«
»Welches meinst du?«, fragte ich.
»Ich denke, da gibt es nur eins.«
Er deutete mit dem Kopf in Richtung seines Schreibtischs, auf dem ein Computerflachbildschirm und eine kleine silberne Statue standen. Neben der Statue lag ein Buch mit mehreren Lesezeichen. Russische Märchen stand in verschlissenen roten Buchstaben auf dem Einband.
»Das Märchen hat der Schriftsteller Sergej Aksakow aufgeschrieben«, sagte er. »Seine Haushälterin Pelageja hat es ihm erzählt.«
»Worum geht es?«
»Um die Schöne und das Biest.«
»Und was spielt das Blümlein für eine Rolle?«
»Damit fängt alles an. Du kennst das Märchen tatsächlich nicht?«
»Nein.«
»Es ist lang, aber auf den Punkt gebracht geht es so, dass ein schönes Mädchen den Vater bittet, er soll ihr eine rote Blume bringen. Der Vater findet eine in einem Zaubergarten, ein gutes Ende weg, und pflückt sie. Aber der Garten wird von einem schrecklichen Ungeheuer bewacht. Es schnappt sich den Vater des schönen Mädchens. Damit er freigelassen wird, muss das Mädchen selbst in Gefangenschaft zu dem Ungeheuer gehen. Das Ungeheuer ist äußerlich hässlich, doch herzensgut. Das Mädchen verliebt sich in das Ungeheuer, erst wegen seiner Güte und später überhaupt. Und als sie sich zum ersten Mal küssen, wird der magische Zauber aufgehoben, und aus dem Ungeheuer wird ein schöner Prinz.«
»Ah ja«, sagte ich. »Ist dir wenigstens klar, worum es da geht?«
»Aber ja.«
»Nämlich?«
»Darum, dass die Liebe stärker als alles ist.«
Ich musste lachen. Witziger Typ! Vermutlich hat er mehrere große Gangster umgelegt, einen Bankier um die Ecke bringen lassen, nun hält er sich in typisch menschlicher Selbstüberschätzung für ein Ungeheuer. Und meint,
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