Das heilige Buch der Werwölfe
die Verpackung auf.
»Nanu? Kuchen?«, staunte er und sah mich stirnrunzelnd an. »Wozu das denn?«
Ich senkte den Blick.
Langsam schien ihm ein Licht aufzugehen.
»Moment … Und ich dachte schon die ganze Zeit, wieso hat sie dieses rote Käppchen auf… A-ha-ha!«
Mit frohem Gelächter schloss er mich in die Arme und platzierte mich neben sich auf das Sofa. Diese Bewegung hatte etwas sehr Natürliches, ich brachte es nicht über mich, ihn wegzustoßen, obwohl ich mich eigentlich noch ein bisschen zieren wollte. Das heißt: Ob ich das wollte, war mir auch schon nicht mehr ganz klar.
»Das ist wie in dem Witz vom Wolf und dem Rotkäppchen«, sagte er, »wo das Rotkäppchen fragt: Aber Wolf, warum hast du denn so große Augen? Und der Wolf sagt: Damit ich dich besser sehen kann. – Aber, Wolf, sag, warum hast du so große Ohren? – Damit ich dich besser hören kann! – Und warum hast du einen so großen Schwanz? – Das ist kein Schwanz, sprach der Wolf und errötete …«
»Puh.«
»Ist wohl nicht lustig?«
Ich zuckte die Achseln.
»Es ist unglaubwürdig. Dass ein Wolf errötet … Die Schnauze ist doch dicht mit Fell zugewachsen. Selbst wenn er errötete, wie sollte man das erkennen?«
Alexander dachte nach.
»Stimmt natürlich«, sagte er dann. »Ist ja auch bloß ein Witz.«
»Gut, dass du das Rotkäppchen wenigstens aus Witzen kennst«, sagte ich. »Ich dachte schon, dir entgeht die Anspielung ganz und gar…«
»Du hältst mich wohl für einen ziemlichen Dilettanten?«
»Wieso? Ein Dilettant wäre einer, der, was er nicht kann, trotzdem tut, weil er es gern könnte. Einen, der etwas nicht weiß, weil er es nicht wissen will, bezeichnet man als Ignoranten. Wofür würdest du dich entscheiden?«
Er errötete – ganz wie in seinem Witz.
»Was meine Bildung angeht, da täuschst du dich. Ich lese täglich.«
Und er deutete zum Couchtisch, wo ein Paperback lag, anscheinend ein Krimi. Werwölfe in Uniform , so der Titel.
»Spannend?«, fragte ich.
»Naja. Geht so.«
»Wozu liest du es dann?«
»Ich wollte herauskriegen, was es mit dem Titel auf sich hat. Wir gehen allen Provokationen nach.«
»Wer ist wir?«
»Gehört nicht zur Sache«, sagte er. »Ich meine, zur literarischen.«
»Krimis gehören auch nicht zur literarischen Sache.«
»Du magst keine Krimis?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Und warum nicht?«
»Sie langweilen mich. Wenn du von der ersten Seite an weißt, wer es war und wozu.«
»Ach ja? Wenn ich dir die erste Seite dieser Werwölfe in Uniform vorlese, kannst du mir sagen, wer es war?«
»Das kann ich auch so. Es war der Autor, und nur wegen des Geldes.«
»Hm. Na gut … Und was ist für dich Literatur?«
»Zum Beispiel Marcel Proust. Oder James Joyce.«
»Joyce?«, fragte er und rückte näher. »Der diesen Ulysses geschrieben hat? Das hab ich zu lesen versucht. Langweilig. Ehrlich gesagt, frage ich mich, wozu solche Bücher gut sind.«
»Wie meinst du das?«
»Na, den Ulysses liest doch keiner. Gut, drei haben ihn gelesen und leben davon bis ans Ende ihrer Tage. Schreiben Artikel, fahren zu Konferenzen. Sonst kann sich keiner dazu aufraffen.«
»Also, weißt du!«, sagte ich und ließ die Werwölfe zu Boden fallen. »Der Wert eines Buches bemisst sich doch nicht danach, wie viele Leser es hat. So wie die Genialität der Mona Lisa nicht davon abhängt, wie viele Leute pro Jahr an ihr vorbeiströmen. Die besten Bücher haben die wenigsten Leser, denn sie zu lesen strengt an. Erst diese Anstrengung sorgt für die ästhetische Wirkung. Literarisches Fast Food kann dir dergleichen nicht bieten.«
Er fasste mich um die Schultern.
»Ich hab dich schon mal gebeten, nach Möglichkeit ein bisschen einfacher zu reden.«
»Noch einfacher ließe es sich so sagen: Lesen ist Kommunikation. Mit wem wir kommunizieren, entscheidet darüber, was wir sind. Stell dir vor, du wärest Fernfahrer. Die Bücher, die du liest, sind die Anhalter, die du mitnimmst. Wenn es kluge, kulturvolle Menschen sind, dann lernst du etwas dazu. Nimmst du immer nur Idioten mit, dann bist du bald selbst einer. Sich mit Krimis zu vergnügen, das ist wie … wie wenn du eine kleine, ungebildete Nutte mitnimmst, nur damit sie dir einen bläst.«
»Wen schlägst du denn vor mitzunehmen?«, fragte er, während er mir die Hand unter das T-Shirt schob.
»Man sollte ernsthafte, anspruchsvolle Bücher lesen, Zeit und Mühe dafür nicht scheuen.«
Seine Hand landete an meinem Bauch.
»Aha«, sagte er. »Als
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