Das heilige Buch der Werwölfe
Verlängerung der Mittelachse, in Schweifmitte …«
»Was ist das für ein übergeordneter Dämon?«, fragte ich ungeduldig.
Der Lord lächelte.
»Das kommt ganz auf Ihre persönlichen Verbindungen an«, sagte er. »Da hat jeder seine eigenen Möglichkeiten … Wir sind am Ende dessen angelangt, was auszusprechen ich berechtigt bin. Ich darf nur noch eines hinzufügen: Position No. III, der sogenannte Abgrund, ist der Ort, wo die Transformation zum Überwertier erfolgt.«
»Und hat schon mal jemand dieses Manöver bewerkstelligt?«, wollte ich wissen.
»Diversen Quellen zufolge ist dies im Jahr 1925 einem Ihrer Landsleute gelungen, dem Moskauer Anthroposophen Bellow alias Scharikow. Er war Schüler von Doktor Steiner, befreundet mit Maximilian Woloschin und Andrej Bely. Bellow wurde, soweit bekannt, von der Tscheka festgesetzt, und die ganze Angelegenheit wurde totgeschwiegen. Der Geheimhaltung hat man damals sehr große Bedeutung beigemessen: Ich darf daran erinnern, dass dem Schriftsteller Bulgakow das Manuskript seines Romans Hundeherz aus diesem Grunde entzogen wurde – das Buch fußt auf den Gerüchten, die zu diesem Geschehnis in Umlauf waren. Danach ward Bellow nie wieder gesehen.«
»Ein Überwertier, was soll das überhaupt sein?«, fragte Alexander.
»Das weiß ich nicht«, sprach Lord Cricket. »Noch nicht. Aber Sie können sich nicht vorstellen, wie begierig ich bin, dies herauszufinden …«
»Wieso läufst du eigentlich schon frühmorgens in Abendkleid und Stöckeln herum?«, fragte mich Alexander.
»Steht mir das etwa nicht?«
»Doch, doch, Schwarz steht dir sehr gut«, sagte er, seine Wange vorsichtig an meiner reibend. »Weiß übrigens genauso.«
Statt uns zu küssen, rieben wir manchmal die Wangen aneinander. Zuerst hatte mich dieses Gebaren belustigt: Kinder benahmen sich so oder Welpen … Später gab er zu, dass es ihn gelüstete, an meiner Haut zu schnuppern, deren Odem in Ohrnähe offenbar besonders aufregend ist. Seither empfand ich bei diesem Ritual einen gelinden Verdruss – irgendwie fühlte ich mich benutzt.
»Heißt das, wir gehen heute ins Theater?«, bohrte er.
»Nein. Ich hätte was Spannenderes zu bieten. Wir fahren auf die Jagd.«
»Ach. Was wollen wir denn jagen?«
»Jagen werde ich allein. Du wirst zuschauen.«
»Und wen wirst du jagen?«
»Hühner«, sagte ich stolz.
»Knurrt dir der Magen?«
»Ha, ha.«
»Wozu sonst eine Hühnerjagd?«
»Ich möchte einfach, dass du mich ein bisschen besser kennen lernst. Pack deine Tasche – wir fahren raus ins Grüne.«
»Was denn, jetzt gleich?«
»Klar. Aber zuvor musst du das hier lesen. Man unterbreitet dir ein kommerzielles Angebot.«
Und ich reichte ihm den Ausdruck eines Briefes, den ich am Morgen per E-Mail von I Huli bekommen hatte.
Grüß Dich, Rotschwänzchen,
pursuant to unserem gestrigen Treffen (sehr nett!). Die Zeit, die wir unsere Jungs sich selbst überließen, um über alte Zeiten zu plaudern, haben sie, wie sich herausstellt, zu einem Streitgespräch über moderne Kunst genutzt. Brian hat Alexander ein paar Fotos von Arbeiten gezeigt, die er in Kooperation mit der Saatchi Gallery auszustellen gedenkt. Da wäre zum einen die Installation Befreiung Babylons: ein Modell des Ischtar-Tors, vor dem zehn gefakte schottische Fallschirmjäger mit Dudelsäcken und gerafften Röcken stehen. Die Gipsfiguren drängen ihre Erektionen dem Betrachter auf, attackieren seine Wahrnehmung und verwandeln ihn so selbst in ein betrachtenswertes Exponat. In einem der Schwerkraft des künstlerischen Objekts ausgesetzten und unterworfenen Raum wird der Zuschauer sich der eigenen räumlichen Präsenz in ihren physischen und emotionalen Koordinaten bewusst. Die Befreiung Babylons hat Alexander gefallen, was sich von den anderen Werken nicht sagen lässt.
Hast du den Hit der Biennale Venedig gesehen? Den Heuschober, in dem sich der erste weißrussische Postmodernist Mykolai Climaxovich vier Jahre lang vor der Polizei versteckt hielt? Alexander hat diese Arbeit als Plagiat geschmäht und von einem analogen Schober des Autors Wladimir Uljanow (Lenin) erzählt, der sich in einer Dauerausstellung im russischen Dorf Rasliw befinden soll. Brian merkte an, eine Nachbildung sei nicht zwangsläufig als Plagiat zu bewerten, sei vielmehr das Wesen der Postmoderne und, umfassender betrachtet, des kulturellen Zeitgeists, der sich im Klonen von Schafen ebenso äußere wie im Remake alter Filme. Womit sollte man sich nach dem
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