Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das heilige Buch der Werwölfe

Das heilige Buch der Werwölfe

Titel: Das heilige Buch der Werwölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
Vom Netzwerk:
fragte ich.
    Er wies mit dem Kopf in Richtung des aufgestellten Schädels, den man im Scheinwerferlicht gut erkennen konnte.
    »Fünfzehn …«, tönte das Megaphon von hinter den Fahrzeugen. »Zehn … Fünf … Los!«
    Ein paar Sekunden lang passierte gar nichts. Dann hörte ich ein dumpfes Fauchen, und im Lichtfeld erschien ein Wolf.
    Er unterschied sich deutlich von der Kreatur, in die Alexander sich verwandelte. Man hätte ihn einer anderen biologischen Art zuordnen mögen. Kleiner von Wuchs, kurzbeinig und ganz ohne die düstere Aura des blutrünstigen Räubers. Sein länglicher, tonnenförmiger Rumpf schien viel zu schwer für ein Leben in wilder Natur, zumal unter den Bedingungen der natürlichen Auslese. Dieser feiste Körper ließ an antike Ausschweifungen denken, christliche Märtyrer und römische Imperatoren, die ihre Feinde den wilden Tieren zum Fraß vorwarfen. Aber am ehesten glich er … Am ehesten glich er einem großen, gemästeten Dackel, den sie in eine Wolfshaut gesteckt hatten. Ich fürchtete, dem Drang zu lachen doch nicht widerstehen zu können. Wodurch dieser Drang nur noch übermächtiger wurde. Ich beherrschte mich mit knapper Not.
    Derweil schnürte Michalytsch den Hügel hinauf und blieb neben der Stange mit dem Schädel stehen. Einen Moment ließ er sich Zeit, dann hob er die Schnauze zum Mond und begann zu heulen, wobei er die gestreckte Rute wie einen Dirigentenstab hin und her schwang.
    Mich überkam dasselbe Gefühl wie bei den Transformationen Alexanders: als wäre dieser Wolfskörper nur ein Phantom oder bestenfalls ein hohler Resonanzkörper, wie der Korpus einer Geige, und alles Geheimnis läge im Klang, der von einer unsichtbar zwischen Schweif und Schnauze gespannten Saite kam. Diese Saite und ihr wildes Appassionato schienen das einzig Reale zu sein, alles Übrige nur Gaukelei … Dieser Schöpfung fühlte ich mich verwandt: Was Michalytsch hier tat, kam dem, was Werfüchse tun, recht nahe, und wie wir gebrauchte er dazu den Schweif.
    Sein Geheul fuhr mir in den Schweifansatz und von da ins Bewusstsein. Ein Resonanzzustand quälender Einsichtnahme: Im Klang steckte Sinn, und ich begriff ihn. Auch wenn er sich nicht ohne weiteres in Menschensprache ausdrücken ließ – eine große Menge Wörter schwangen darin mit, schwer zu sagen, welche davon am meisten zutrafen. Ganz grob und ohne jeden Anspruch auf Exaktheit würde ich den Inhalt so wiedergeben:
     
    »He, bunte Kuh! Kannst du mich hören, bunte Kuh? Ich bin es, der fiese alte Wolf Michalytsch flüstert dir was ins Ohr. Weißt du, was mich zu dir führt, bunte Kuh? Mein Leben ist so düster und freudlos geworden, dass ich dem Bild Gottes abgeschworen habe, um als Wolf mein eigener Herr zu sein. Und jetzt heule ich den Mond an, den Himmel und die Erde, deinen Schädel und was sonst noch ist, damit die Erde ein Einsehen hat, sich auftut und mir Öl gibt. Es gibt keinen Grund, Mitleid mit mir zu haben, das weiß ich. Hab trotzdem Mitleid mit mir, bunte Kuh. Wer, wenn nicht du, sollte es noch haben auf dieser Welt. Und du, Erde, sieh mich an, schaudere – und gib mir Öl, damit ich es für ein bisschen Geld verkaufen kann. Denn Gottes Ebenbild zu verlieren, Wolf zu werden und kein Geld zu haben – das ist unerträglich, das ist undenkbar, das wird Gott, dem ich abschwor, doch nicht zulassen …«
     
    Der Ruf war von einer merkwürdigen, faszinierenden Kraft und Aufrichtigkeit: Michalytsch musste man nicht bedauern, doch sein Anliegen ging nach allen Grundvorstellungen, die man vom russischen Leben hat, voll in Ordnung. Er verlangte von der Welt, wenn man so sagen darf, nichts Unmögliches, alles war logisch und im Rahmen des für Russland geltenden metaphysischen Anstands. Der Schädel, den ich durch das Fernglas beobachtete, zeigte jedoch keine Reaktion.
    Michalytsch heulte noch zehn Minuten weiter, es lief immer ungefähr aufs selbe hinaus. Manchmal war sein Geheul klagend, dann wieder kippte es ins Drohende, dass selbst mir die Knie davon weich wurden. Doch alles blieb unverändert. Wobei ich übrigens gar nicht wusste, was sich hätte verändern sollen und ob überhaupt – ich wartete darauf, dass etwas passierte, weil Alexander mir durch das Fernglas auf den Schädel zu gucken befohlen hatte. Doch die paar Worte, die Alexander mit dem Offizier wechselte, machten mir klar, dass Michalytsch gescheitert war.
    Möglicherweise lag es an einer gewissen chemischen Künstlichkeit, die seinem Geheul anhaftete. Sie war nicht

Weitere Kostenlose Bücher