Das Herz der 6. Armee
wußte nicht mehr, daß er hinter seinen Steinen lag und wie ein junger Wolf heulte. Er hatte nur den Drang, zu Dr. Portner zu laufen, bei ihm zu sein, es war eine Verbundenheit, die stärker schien als zwischen Vater und Sohn … aber als er aufspringen wollte, warfen sich Knösel und ein Sanitäter über ihn und drückten ihn in die Deckung zurück.
Verbissen, stumm, aber mit unwahrscheinlicher Härte rangen sie miteinander. Es war rätselhaft, welche Kräfte noch in Dr. Körners ausgezehrtem Körper steckten … er stemmte sich gegen den bulligen Knösel und den Sanitäter, trat um sich, wälzte sich unter ihnen weg, hieb mit den Fäusten auf sie ein. Keuchend, aber ohne Worte, denn hier gab es nichts mehr zu sagen, schlugen sie auf sich ein, bis ebenso plötzlich, wie die Kraft gekommen war, in Körner eine völlig Schlaffheit eintrat … er lag auf dem Rücken, starrte in den grauen Winterhimmel, mit einer Apathie, die wie lähmend wirkte. Knösel, der sich von ihm löste, wartete ab, ob er sich wieder rührte. Aber Dr. Körner regte sich nicht. Es war, als habe man eine ausgebrannte Schlacke in Gestalt eines Menschen in die Trümmer geworfen. Eine Stunde lang kurvte der Panzer auf der Straße … dann fuhr er zurück zum Roten Platz, wo in den riesigen Kaufhauskellern das Armee-Oberkommando hauste. Unter ihnen Offiziere, die in diesem Augenblick überlegten, ob man auf der Kaufhausruine die Hakenkreuzfahne hissen sollte, um unter diesem Zeichen zu sterben. Und ein Generaloberst, der stumpf und zerbrochen in seinem Kellerraum hockte und mit dem Gedanken spielte, sich am nächsten Tag mit einer Ladung Pioniersprengstoff in die Luft zu jagen.
Als der Panzer davongerumpelt war, sprangen Knösel und die beiden Sanitäter aus ihrer Deckung und schleiften General Gebhardt, Oberst von der Haagen und Stabsarzt Dr. Portner von der Straße. Auch Dr. Körner stand plötzlich neben ihnen … stumm griff er seinem Stabsarzt unter die Arme und trug ihn mit Knösel zum Lazarettkeller zurück. Die Sanitäter folgten ihnen … sie trugen den General und den Oberst über den Schultern wie Fleischer eine Rinderseite.
Dr. Sukow und die Pannarewskaja standen schweigend vor den Toten, als man sie im OP-Keller niedergelegt hatte. Pfarrer Webern betete stumm. Er hatte das kleine goldene Brustkreuz zwischen die gefalteten Hände geklemmt und die Augen geschlossen. Seine Erschütterung war unsagbar, sie verschloß ihm den Mund. Man müßte ein Hiob sein, dachte er. Jetzt müßte man den Mut haben, mit Gott hadern zu können. Jetzt müßte man rufen können: Gott – warum?!
Im kleinen Keller neben dem OP-Raum hockte Knösel und weinte. Er saß wie ein sterbender Hund in der dunklen Ecke, und Iwan Iwanowitsch Kaljonin und seine Frau Vera saßen neben ihm und hatten die Arme um ihn gelegt.
»Kriegg bald kaputt …«, sagte Kaljonin leise und hielt den schluchzenden Kopf Knösels fest. »Briederchen … nur noch einen Tagg … odder zwei …«
Chefchirurg Dr. Andreij Wassilijewitsch Sukow zog eine alte, blutbefleckte Decke über das Gesicht Dr. Portners. Olga Pannarewskaja half ihm mit der Starrheit einer Puppe. Ihr bleiches, tatarisches Gesicht war regungslos. Man hatte ihr erzählt, daß auch Dr. Körner beinahe nicht mehr zurückgekommen wäre, daß man ihn zwingen mußte, weiterzuleben. Nun stand er an einem der Tische und operierte … es war, als läge auf dem Nebentisch nicht Dr. Portner, er sah nicht hin, drehte ihm den Rücken zu, beugte sich über den zerrissenen Körper und schnitt in die zuckende Wunde … doch ab und zu unterbrach er seine Operation, drückte das Kinn an die Brust und zwang sich, nicht aufzuheulen. Dann lief ein Zittern durch seinen schmalen Jungenkörper, und die Pannarewskaja legte die Hand auf seine Schulter, stumm, aber mit einem kräftigen Druck. Da operierte er weiter.
Beim Morgengrauen wurden General Gebhardt, Oberst von der Haagen und Stabsarzt Dr. Portner begraben. So unterschiedlich sie im Leben gewesen waren, nun lagen sie nebeneinander in einem Granattrichter, jeder in eine Zeltplane gewickelt, auf der Brust ein Kreuz, das Knösel aus Dachlatten gezimmert hatte. Pfarrer Webern und der verwundete, von zwei Sanitätern gestützte Pastor Sanders sprachen die Gebete. Dann wurden die ersten Steine auf die Körper gerollt …
Dr. Sukow war der erste, und er merkte erst da, als er die Hände gebrauchen mußte, daß er sie bei den Gebeten gefaltet hatte, unwillkürlich, wie selbstverständlich. Er
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