Das Herz der 6. Armee
lebe ich noch! Ich, ihr Kommandeur! Das ist doch widersinnig!«
»Es wäre widersinnig, sich für ein Nichts wie die sogenannte Soldatenehre zu opfern! Kommen wir dem Sieg näher, wenn Sie jetzt hinausgehen und sich totschießen lassen?«
»Nein! Aber ich habe wider besseres Wissen meine Leute in den Tod geführt. Eine ganze Division! Glauben Sie, daß ich jemals in Ruhe wieder schlafen kann?«
»Ich glaube nicht, daß die Herren im Führerhauptquartier auch solche zarten Seelen haben. Sie schlafen ruhig weiter … und wenn ganze Armeen untergepflügt werden. Man schläft ruhig mit der Gewissensbremse, daß solche unliebsamen Begleiterscheinungen zum Risiko eines Soldaten gehören. Ein Fensterputzer kann von der Fassade stürzen, ein Tischler sich den Daumen absägen, ein Elektriker einen Schlag bekommen, ein Schornsteinfeger vom Dach fallen … und ein Soldat kann eben nun mal sterben. Das gehört zum Beruf.«
»Ich kenne Ihren Sarkasmus, Doktor.« General Gebhardt sah auf seine Armbanduhr. »3.43 Uhr morgens, 29. Januar 1943. Ich habe Sie noch einmal gesehen und gesprochen … merkwürdig, welch ausgefallene Wünsche man am Ende seines Lebens hat.«
Dr. Portner sprang auf. »Was wollen Herr General tun?« rief er laut.
»Mit der blanken Waffe fallen, mein Lieber.«
»Das lasse ich nicht zu!«
»Ihr Reich ist der Häcksel, der aus der Kriegsmaschine geschleudert wird … kümmern Sie sich darum und nicht um einen alten, müden Mann, der sich nach Ruhe sehnt …«
»Herr General! Nebenan sitzt Oberst von der Haagen und …«
Gebhardts Kopf flog herum. »Was? Der ist hier? Dann lebt ja doch noch einer meiner Division! Von der Haagen nehme ich natürlich mit …«
»Herr General …«, stammelte Dr. Portner.
»Gerade von der Haagen ist dazu ausersehen, das Beispiel zu geben, das er immer gepredigt hat. Wo ist er?«
»Nebenan …« Dr. Portner schluckte. Zum erstenmal empfand er Mitleid mit dem Oberst, der ahnungslos neben dem ›Held der Nation‹ Sabotkin schlief. »Aber er ist verwundet …«
»Das macht nichts!« General Gebhardt straffte sich. »Wie sagte von der Haagen immer: Eine deutsche Eiche fällt stolz um … Gehen wir …«
»Herr General –«
Dr. Portner rannte Gebhardt nach.
»Wo ist Knösel?!« schrie der Stabsarzt. »Knösel, sofort zu mir! Himmel, Arsch … Knösel!!«
Er war bereit, General Gebhardt mit Gewalt zurückzuhalten. Er und Knösel und Dr. Körner … sie würden es schaffen.
General Gebhardt ging unbeirrt weiter. Er stieg über Verwundete, Sterbende und Tote und winkte Oberst von der Haagen zu, der in diesem Augenblick aus seinem Keller kam.
»Da sind Sie ja!« rief Gebhardt. »Ich brauche Sie, von der Haagen …«
»Herr General …«, stotterte der Oberst. Er nahm die Hacken zusammen und grüßte. »Welche Freude.« Plötzlich leuchteten seine Augen auf. »Herr General haben mit der Division den Abschnitt bereinigt? Es geht wieder vorwärts?«
»Und wie, von der Haagen!« Der General hob die rechte Hand. »Mit dem Führer … Sieg Heil!«
»Sieg Heil!« Von der Haagen hob den weißhaarigen Kopf. Sein eingefallenes Gesicht belebte sich. Dr. Portner biß sich auf die Lippen. Das Mitleid mit diesem Mann, der sich an ein Wort, an einen Begriff klammerte wie ein Ertrinkender an ein treibendes Brett, stieg heiß in ihm auf. Plötzlich erkannte er, wie klein und armselig dieser Mensch war, wie unendlich zerrissen und hilflos. Der Oberst rückte an dem Rock seiner Uniform. »Darf ich als erster Herrn General beglückwünschen, daß …«
»Draußen, von der Haagen, draußen. Gehen wir hinaus. Ich liebe frische Luft …«
»Ich auch, Herr General.«
»Ich weiß … sie wird Ihnen guttun. Kommen Sie.«
»Knösel!« brüllte Dr. Portner und sprang über die liegenden Körper General Gebhardt nach. »Zum Teufel noch mal – wo ist Knösel?!«
Es war der Augenblick, in dem Kaljonin und Knösel ihre gefrorene Pferdelende heranschleiften und ächzend oben an der Treppe eine Verschnaufpause einlegten.
Der kleine Trupp aus vier Offizieren und zwanzig Mann, der nach dem Weggang General Gebhardt sich durchschlagen wollte, gelangte wirklich in der Nacht hinter die feindliche Umklammerung. Sie sickerten durch und marschierten seitlich der Straße von Gumrak nach Westen. Die Stimmung war fast überschwenglich. Das Trümmerfeld der Stadt lag hinter ihnen, sie sahen den Feuerschein der pausenlosen Artilleriebeschießung des Nord- und Südkessels und die Feuerwand im Kessel
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